Urs Tillmanns, 27. August 2022, 09:30 Uhr

Buchtipp: Simone Kappeler «Der Birnbaum»

Birnbäume sind das Thema. Nicht einfach Birnbäume, sondern Hochstammbirnbäume! Von denen gibt es nämlich immer weniger, weil Birnen heute in Niederstammanlagen kultiviert werden. Das ist weniger mühsam, und die Früchte wären zur Weiterverarbeitung geeigneter. Es gibt auch deshalb immer weniger Hochstämmer, weil in den 1960er Jahren Tausende auf Verfügung der Alkoholverwaltung gefällt wurden, weil die Bauern angeblich zu viel Schnaps gebrannt hätten. Dabei liefern die Hochstammbäume andere Sorten von Birnen und beherbergen vielen Tierarten, die anderswo nicht zu finden sind.

Es ist mehr als zehn Jahre her, als die Fotografin Simone Kappeler zusammen mit einer alten Bäuerin eine Blustfahrt durch den Thurgau unternahm. Sie hatte ihr dabei die Augen geöffnet, hat von früher erzählt, wie schön sie doch wären, welchen Wert diese Bäume hatten, und dass man diese damals den Töchtern als Mitgift vermacht hatte. Früher standen sie in Reih’ und Glied und wurden sorgsam abgeerntet. Heute sind es noch vereinzelte, die majestätisch auf einer Wiese stehen oder einen Bauernhof zieren. Und es waren genau solche Solitäre, welche bei Simone grosse Begeisterung auslösten. Seither sucht sie Hochstammbirnbäume im ganzen Thurgau auf und fotografiert sie zur besten Jahres- und Tageszeit. Es mögen bislang über 400 sein, die sich in den letzten rund zehn Jahren bei ihr angesammelt haben.

Verblüffend ist die formliche Vielfalt der Bäume. Kein Baum ist gleich wie der andere, jeder ist ein Individuum. Der Wind hat ihnen ihre Form verpasst, die Äste und Blätter in eine Richtung gedrängt. Andere sind nur noch Skelette, schon etwas morsch zum Teil, die aber ihre Tradition trotzdem weiterleben wollen. Simone Kappeler hat die charakterstarken Riesen mit ihrer analogen Hasselblad gekonnt ins Quadrat gesetzt. Sie hat die Bilder sorgsam ausgewählt, den Seitenablauf so festgelegt, dass eine beeindruckende Spannung in das Buch gebracht wird, das mehr ist als nur Dokumentation. Die Fotografin will uns mit ihren Bildern eine Geschichte erzählen – eine Geschichte von Bäumen, die es bald nicht mehr geben wird.

Mit dem Einleitungstext von Johann Gottfried Ebel (1764 – 1830) über die «Schilderung der Gebirgsvölker der Schweiz» aus dem Jahre 1798 wird das Buch zur spannenden Zeitreise. Ebel hatte vor mehr als zwei Jahrhunderten noch eine gesunde Kultur der hochstämmigen Birnen- und Apfelbäume in Thurgau vorgefunden, und hebt in seinem Text nicht nur die landschaftliche Schönheit der Bodenseegestade hervor, sondern er betont den Wert dieser Bäume, die dem Bauernstand damals zu reicher Ernte und Wohlstand verhalfen.

Für wen ist dieses Buch? Diese fotografische Sammlung hochstämmiger Birnbäume im Thurgau ist nicht nur Dokumentation einer selten gewordenen Baumart. Simone Kappeler will mit dieser Themenarbeit einerseits den kulturellen Wert dieser Baumriesen aufzeigen, anderseits die Schönheit und Vielfalt dieser Hochstämmer betonen – von Bäumen, die bald nicht mehr sein werden. Mit dem Thurgau verbundene Naturfreunde und Liebhaber einer gepflegten, klassischen Fotografie werden den Wert dieses Buches besonders zu schätzen wissen.

Urs Tillmanns

 

Buchbeschreibung des Verlages

Seit 2012 fotografiert Simone Kappeler die letzten verbliebenen Hochstammbirnbäume im Thurgau. Das Buch «Der Birnbaum» gibt erstmals Einblick in diese eindrückliche Serie von Schwarzweiss-Bildern. Das Buch ist eine Hommage an die Thurgauer Landschaft im Speziellen und an die Natur im Allgemeinen. Seit jeher prägt der Obstanbau das Erscheinungsbild und das Leben der Region. Im 20. Jahrhundert wurden die prächtigen Hochstammobstbäume jedoch zunehmend von der industrialisierten Landwirtschaft verdrängt. Diesem Verschwinden setzt Simone Kappeler ihre Momentaufnahmen einer alten Kulturform entgegen. In ihren Fotografien werden die Birnbäume zu Archetypen der Natur. Indem Simone Kappeler das Motiv des Birnbaums auf sich selbst reduziert, verleiht sie ihm eine magische Überzeitlichkeit. Der Fotografin gelingt es, die Birnbäume als Charaktere zu zeigen. Jeder einzelne von ihnen ist ein Individuum mit einer eigenen Geschichte und einem eigenen Ausdruck. Stamm, Astwerk und Laub bestimmen zusammen das Aussehen des Baums. Die Fülle der Bilder verdeutlicht die Vielfalt und Schönheit der Natur.

 

Der Inhalt

Abreise von Konstanz nach Arbon (aus Johann Gottfried Ebel «Schilderung der Gebirgsvölker der Schweiz, Leipzig, 1798)

Titel

Bildseiten
Ghürst / Steinfloh / Steinegg / Thundorf / Thor

Riedern / Rapperswilen / Bruster / Ebikon / Hemishub / Zihlschlacht / Klingenzell / Rüti

Wartenwil / Triboltingen / Ghürst / Wahrenberg / Griesenberg / Hemishub

Oppikon / Täschliberg / Näglishub / Buch / Erikon / Strohwilen / Sterenberg

Sommeri / Oberegg / Fimmelsberg / Löwenhaus / Steinegg / Strohwilen / Salen

Bernhausen / Holzhäusern / Strohwilen / Griesenberg / Vogelsang / Horchenthal

Friedberg / Kalthäusern / Holzmannshaus / Wolfikon / Wahrenberg / Thundorf / Betenwil / Kummelshäusern

Vogelsang / Wartenwil / Strohwilen / Rüti / Holzhof / Tägerwilen / Dietenwil / Uerschausen / Blidegg / Rohrenmoos

Hübli / Hübli / Kummertshausen / Klingenzell / Himmelsberg / Hübli / Halingen / Griesenberg / Helmishub

Zum Birnbaum hin (ich ging)

Impressum

 

Die Fotografin

Simone Kappeler wurde 1952 in Frauenfeld geboren. Sie studierte von 1972 bis 1976 Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Zürich und von 1975 bis 1979 an der Fachklasse für Fotografie der Schule für Gestaltung in Zürich. Sie lebt und arbeitet in Frauenfeld und unterwegs. Ihre Werke finden sich in privaten und öffentlichen Sammlungen wie etwa der Fotostiftung Schweiz, dem Kunstmuseum Thurgau, der UBS Art Collection und der Collection Neuflize Vie, Paris. Simone Kappeler wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Kulturpreis des Kantons Thurgau 2021, dem Konstanzer Kunstpreis oder dem Eidgenössischen Stipendium für angewandte Kunst.

 

Bibliografie

Simone Kappeler: «Der Birnbaum»

Mit Texten von Johann Gottfried Ebel und Simone Kappeler

144 Seiten, 62 Duplex-Abbildungen, Fadenheftung, Hardcover
Format: 21 x 28 cm
Verlag Saatgut, Frauenfeld, August 2022  
Preis: CHF 49.00  
Sonderausgabe mit signiertem Print CHF 300.– hier erhältlich.
ISBN 978-3-9525244-5-9

Das Buch ist im Buchhandel oder direkt beim Verlag erhältlich. 

 

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