Die Fotografie ist heute eine anerkannte Kunstform. Allerdings bedeutet das nicht, dass auch alle Fotografien Kunstwerke und alle Fotografen Künstler sind. Die Fotografie gleicht eher der Schrift. Ein Geschäftsbrief ist so wenig ein Kunstwerk wie ein Selfie. Mit der Sprache werden aber auch Gedichte und Romane geschrieben, die in die Literaturgeschichte eingehen und mit der Kamera aufgenommene Bilder können Ikonen der Zeit werden. Das «Ich-Auge» beschreibt, was es braucht, dass ein Bild mehr als nur ein Abbild der Realität ist und vom Betrachter als persönlicher Ausdruck des Fotografen und vielleicht auch als Kunstwerk angesehen wird.
Starke Bilder haben nicht nur eine klare Aussage und sprechen unsere Gefühle an, sondern sie erzählen uns mit dem «Ich-Auge» auch viel über den Fotografen. Dieser kann sich mit und durch seine Bilder ausdrücken. Je intensiver er sich mit seiner Bildsprache identifiziert, desto mehr erzählen die Bilder dem Betrachter über ihn und seine Sicht der Welt. Der Wahl des Themas kommt in diesem Bereich eine grosse Bedeutung zu. Kann ein Fotograf mit Landschafts- und Architekturaufnahmen noch sehr wenig über sich selbst aussagen, verrät er zum Beispiel mit Akt-, Erotik- und Fetischaufnahmen natürlich wesentlich mehr (z.B. über seine Einstellung zur Sexualität).
Fotografen können durch eine eigenständige und ungewöhnliche Sichtweise eine individuelle und gut erkennbare Bildsprache entwickeln. © Helmut Gollmann
Aber wir können in den Bildern nicht nur die Sprache und die Einstellung des Fotografen lesen, auch der Betrachter dieser Bilder verrät durch seine Reaktion viel über seine eigene Einstellung zum abgebildeten Thema. Je extremer das Motiv ist, desto polarisierender sind auch die Reaktionen der Betrachter. Hier beginnt auch das grosse und schwer fassbare Feld der Kunst, welche sich der Fotografie aus anderen Gründen bedient als der kunstorientierte Fotograf.
Durch eine spezielle Form der Nachbearbeitung und eine kreative Bildgestaltung (die hier an Themen der Malerei erinnert) entsteht eine kunstvolle und eigenständige Bildwirkung. © think tank ART
Dieser Bereich ist stark subjektiv gefärbt und alle Aussagen sind entsprechend unscharf. Deshalb fehlen in den meisten Fachbüchern der Fotografie Angaben, wie die Qualität solcher Bilder beurteilt und bewertet werden kann. Die Ich-Ebene entspricht vom Grundgedanken her der Selbstoffenbarung des Kommunikationsmodells von Friedemann Schulz von Thun.
Die Welt des digitalen Composings erinnert von der Vorgehensweise an die Arbeitstechnik des Malers. Das Bild entsteht zuerst im Kopf des Künstlers und wird erst dann mit verschiedenen technischen Hilfsmitteln realisiert. © Uli Staiger
Das «Ich-Auge» ist zentral für das Verständnis der Fotografie als Kunstform. Erst als man erkannte, dass sich Fotografen sehr individuell und unterschiedlich mit der Fotografie ausdrücken konnten und so eine eigene und gut erkennbare Bildsprache entwickelten, waren die Voraussetzungen für die Akzeptanz der Fotografie als Kunstform gelegt. Das Entwickeln einer eigenen Bildsprache ist aber ein sehr komplexes Thema, das ich gerne bei einem anderen Blog erörtere.
Peter Franck ist Maler und Fotograf zugleich. Für ihn ist das Foto eine Grundlage, ein Werkzeug für seine Kunst. Er setzt dieses Werkzeug auf die unterschiedlichsten Arten ein. Manchmal bleibt das Grundlagenbild fast unverändert. Oft aber setzt Peter Franck die Bildbearbeitung gezielt und intensiv ein, um seine Bildvorstellungen zu erreichen. Bei dieser Aufnahme kombiniert er Tischansichten mit scheinbar darunterliegenden Modellaufnahmen. © Peter Frank
Die Fotografie von Jan Scholz zeichnet sich durch eine grosse Sensibilität aus. Seine Lichtstimmungen sind zart und leicht, seine Modelle nachdenklich und in sich versunken. Seine Aufnahmetechnik unterstützt diese Bildaussage. Jan Scholz begann mit digitalen Kameras zu arbeiten. Die oft harte und überpräzise Wiedergabe dieser Kameras konnte ihn aber nicht überzeugen. Um seine gewünschten Bildstimmungen zu erreichen, wechselte er zum analogen Grossformat. Die antiquierten Kameras und die samtigen Töne der Schwarzweissfilme passen sehr gut zu seinen Fotos und seiner Arbeitsweise. So kann er mit seinen Aufnahmen auch seine eigene Gefühlswelt ausdrücken. © Jan Scholz
Beat Mumenthaler interessiert das Wesen eines Menschen, sein wahres Gesicht. Dieses will er festhalten, in all seinen Schattierungen, mit all seinem Licht. Beat Mumenthaler ist durch seine ausdrucksstarken Porträtbilder international bekannt geworden. Vom Schweizer Bundesrat über Bauern in den Bergen zu berühmten Persönlichkeiten (wie hier Arnold Schwarzenegger), von den letzten Überlebenden des Holocaust zu den Flüchtlingskindern aus Syrien: Die Menschen, die Beat Mumenthaler fotografiert, wirken immer natürlich, offen und echt. Sein Porträtstil ist heute in der Schweiz als Mumenthaler-Porträt bekannt. © Beat Mumenthaler
Text: Martin Zurmühle
Bildmaterial aus dem Buch des Autors
Die vorhergehenden Folgen finden Sie hier:
Folge 1: «Das Vier-Augen-Modell von Martin Zurmühle», 13.11.2020
Folge 2: «Vier-Augen-Modell: Das Form-Auge», 20.11.2020
Folge 3: «Vier-Augen-Modell: Das Erzähl-Auge», 27.11.2020
Folge 4: «Vier-Augen-Modell: Das Gefühls-Auge», 04.12.2020
Das Buch zum Thema
Diese fünfteilige Artikelfolge basiert auf dem Buch «Lehrbuch Bilder analysieren» von Martin Zurmühle. Als zweites Buch der Trilogie Technik, Gestaltung und Wirkung in der Fotografie zeigt es Ihnen, wie Sie die Qualität von Fotografien bewerten, ihre Wirkung auf den Betrachter analysieren und das Besondere einer originalen, authentischen und kreativen Bildsprache erkennen können. In 10 Abschnitten (mit insgesamt 73 Kapiteln) werden die Bildwertung mit dem Doppelten Dreieck und die Bildanalyse nach dem Vier-Augen-Modell vorgestellt. Mit Aufnahmen von herausragenden Fotografen werden die verschiedenen Augen des Vier-Augen-Modells erklärt und den Einsatz des Modells in der Praxis und bei der Entwicklung einer eigenen Bildsprache aufgezeigt. Das Buch ist im 4-Augen-Verlag erschienen und kostet CHF 59.90 (inkl. Versand).
> Lesen Sie auch die Buchbesprechung auf Fotointern (15.12.2018)