Gastautor/-in, 4. Oktober 2020, 10:00 Uhr

Vera Rüttimann: Kastanienallee Berlin 1990 bis 2020

Die Geschichte Berlins interessiert, fasziniert. Vom 13. August 1961 bis 9. November 1989 war die Stadt mit einer Mauer in den Westen und den Osten geteilt. Zwei Stadtteile, zwei Welten. Im Westen die Bundesrepublik Deutschland, im Osten die Deutsch Demokratische Republik. Die Mauer dazwischen: 3,6 Meter hoch, armierter Beton, oben rund, 160 Kilometer lang mit Stacheldraht und Selbstschussanlagen. Am 9. November 1989 war die Mauer offen und der Weg von Osten nach Westen offen: Freiheit und bessere Welt. Wirklich?

Kunstruine Tacheles. Die Sprenglöcher für das im Zweiten Weltkrieg zerstörte jüdische Kaufhaus waren schon gebohrt, als hier 1990 junge Kreative das Haus besetzten und es zu einer Kunstruine umfunktionierten. Dieser Ort avancierte in den 90er-jahren zum Symbol des ‚New Berlin‘ in Berlin-Mitte. (Bild aufgenommen am 09.09.1992).

Sechs Monate später entschied sich die junge Fotografin Vera Rüttimann aus Wettingen nach Berlin auszuwandern, und zwar in die Oststadt, um zu sehen wie es zur DDR-Zeit war und den Aufbruch aus jener Perspektive selbst mitzuerleben. Seither sind 30 Jahre vergangen, drei Jahrzehnte, in denen «die Wende» Stadt und Menschen verändert hat. Verändert hat sich auch die Kastanienallee, ein 950 Meter langer Boulevard im Berliner Ortsteil Prenzlauer Berg. Sie ist zur «Szenen-Meile» geworden, mit vielen Kneipen und Galerien und mieten, welche sich einstigen Bewohner nicht mehr leisten konnten. Sie sind ausgewandert.

Blick von einem besetzten Haus auf die Ecke Kastanienallee mit noch unsanierten Häusern. 1991 waren die Strassen noch leer, die Häuser marode und von den Kastanienbäumen, welche einst der Allee den Namen gaben, ist auch nichts zu sehen.

Junge Leute geniessen ein halbes Jahr nach der Maueröffnung ihr Frühstück auf dem Hausdach mit westlichen Produkten und Zeitungen, die früher streng verboten waren

«Im Mai 1990 begann ich mit meiner Entdeckungs-Tour durch die Noch-DDR. Mehr zufällig stiess ich auf die Kastanienallee. Wenig später stand auf ich dem Teerdach eines besetzten Hauses und staunte: Solch eine Strasse hatte ich, aus der Schweiz stammend, noch nie gesehen! Es sah hier aus wie kurz nach dem letzten Krieg: Schutthaufen, kaputte Fassaden und menschenleere Strassen. Eine Welt in Schwarzweiss. Es roch nach Dreck, Kohle und Trabant-Duft. Aber auch nach Freiheit. Das alte System war weg, das neue Berlin noch nicht da.

In den neunziger Jahren wurde viel alte Bausubstanz beseitigt und machte neuen Geschäfts- und Wohnhäusern Platz – mit Mieten, die für viele Leute unerschwinglich wurden 

 

Berlin putzt sich raus. Viele marode Fassaden wurden saniert, die Häuser umgebaut und moderne Verkaufsläden lockten eine neue Kundschaft an

 

Schon vor 2012 war das Fotogeschäft Woelk an der Ecke Kastanienallee/Schwedter-Strasse geschlossen. Heute befindet sich hier ein gesichtsloses Modegeschäft

 

30 Jahre nach der Deutschen Einheit ist diese Strasse, die die erste Szenemeile im Ost Berlin war, eine andere. Die einst grauen Fassaden sind glatt saniert. Viele Cafés und Ateliers mussten Burger-oder Modeläden weichen. Ich habe viele verschwinden sehen: Läden wie das ‘East Berlin’, den ‘Koof im Kiez’ oder das Atelier des bekannten Kiez-Fotografen Peter Woelck, der seine wunderbare Studien von Arbeitern in der DDR jeweils in seinen Aushang hängte. Auch das Haus an der Ecke Kastanienallee/Oderberger-Strasse, in dem Künstler kurz vor der Sanierung einen roten Ballon – wie eine Zunge – durch ein Fenster drückten, sieht heute anders aus.

In der Gegend, wo 2006 ein grosser Ballon Immobilien-Spekulanten die Zunge rausstreckte, sind heute Burger-Läden und Asia-Restaurants zu finden

 

Noch aber ist der alte Charme nicht ganz verschwunden. Ich laufe gern vorbei am Vinyl-Laden ‘Da Capo’, dem Frisör ‘Vokuhila’, dem Prater und natürlich dem Café ‘Schwarzsauer’. Sein dunkelbraun gestrichenes Interior sieht exakt aus wie 1992. Vorbei aber sind die Zeiten, in denen sich hier Actors wie Harvey Keitel ihre Zigarre drehten.

Das Café Schwarzsauer war 1992 das erste Szenecafé an dieser Strasse. Auch hier sind die maroden Fassaden verschwunden

 

Immer noch da sind einige alternativen Hausprojekte: 

In der ehemals besetzten ‘86’ prangte 2014 an der Fassade unübersehbar der Spruch ‘Kapitalismus tötet’. Noch heute dient der Ort der ‚freien Meinungsäusserung‘. In der ‘85’ daneben führt ein linkes Kollektiv das Café Morgenrot, ein beliebter Treffpunkt der jungen Generation.

 

In der ‘77’ betreibt ein eigenständiges Kollektiv das Lichtblick-Kino. Das charmante Kino ist ein auszeichneten Programmkino und glänzt ausserdem mit kreativem Umgang mit Filmplakaten. Der Film, der hier gezeigt wird, trägt den Titel ‘Schönheit und Vergänglichkeit’».

 

Text und Bilder: Vera Rüttimann

 

Ausstellung in der photobastei

Zur Zeit und noch bis 11. Oktober 2020 ist in der Photobastei die Ausstellung «Zeitlandschaften – Berlin 1990 bis 2020» zu sehen. Die Bilder zeigen die Wandlung Berlins nach dem Mauerfall bis heute. Viele der Bilder dokumentieren Spuren, die der Zweite Weltkrieg, die DDR und die Nachwendezeit hinterlassen haben: Verbrannte Erde, schwarze Fassaden und vernarbte Landschaften, in die sich temporär die Kunst eingenistet hat. Sie zeigt auch aktuelle Bilder, die von der kreativen Energie zeugt, die die Stadt bis heute auszeichnet.  

 

Zur Fotografin

Seit drei Jahrzehnten lebt die Schweizer Fotografin und Journalistin Vera Rüttimann in Berlin. Aufgewachsen in Wettingen (AG), wanderte sie im Mai 1990 nach Ost-Berlin aus. Die Berliner Mauer war da gerade ein halbes Jahr gefallen. Die DDR aber, die existierte noch bis zum 3. Oktober 1990. Ein Staat nicht weit entfernt von der Schweiz, zerbrach im Eiltempo. Sie ahnte: Ein solches Ereignis kommt nicht wieder. Sie blieb in Berlin und hält seitdem mit dem Langzeitprojekt «Berlin Timescapes» die fortlaufenden Veränderungen in dieser Stadt fest. Seit einigen Jahren pendelt Vera Rüttimann zwischen Berlin und Zürich und arbeitet in Form von Fotografie und Text für deutsche und Schweizer Medien. www.veraruettimann.com

Doku-Tipp: Dokumentarfilm «Unsere Straßen: Kastanienallee», RBB-Fernsehen, 24. November 2020, 20:15 Uhr

 

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