Eigentlich ist der Titel «Werkverzeichnis» recht bescheiden. Es hört sich irgendwie nach einem administrativen Hilfsmittel an, um in einem Archiv etwas Bestimmtes zu suchen. In der heutigen Zeit wäre dies ohne Zweifel eher eine Bilderdatenbank, mit der schnell und sicher mit einer Verschlagwortung das Gewünschte mühelos aufgefunden werden könnte. Ein solches Tool auf einer Webseite oder auf einen DVD gebrannt, würde sicherlich diesen Zweck auch erfüllen, für diejenigen, die damit umgehen wollen (und können), sofern sie überhaupt dem Bedarf haben, nach ganz besonderen Bildern in diesem Archiv zu suchen. Der Titel «Werkverzeichnis» wird auch deshalb dem Buch nicht ganz gerecht, weil es bei einer Selektion bleibt, denn Renés Gesamtarchiv dürfte um einiges grösser sein als um die hier dokumentierten rund 1200 Abbildungen..
Aber darum geht es beim «Werkverzeichnis» von René Groebli gar nicht. Ich glaube kaum, dass das Buch mit dem Kernziel entstand einen «Bestellkatalog» zu schaffen – wie es der Titel vermuten lässt, obwohl es mit der minutiösen Nummerierung der Bilder dazu ohne weiteres geeignet wäre. Den Wert des Buches sehe ich ganz woanders:
René Groebli kann auf ein grossartiges Lebenswerk zurückblicken. Unzählige Ikonen der Fotografie legen Zeugnis dieser jahrzehntelangen Erfolgsleistung ab. Es sind in jeder Schaffensperiode und zu jedem Thema Bilder entstanden, die man ohne Überlegen René Groebli zuordnet – weil sie einen unverkennbaren Stil haben oder weil sie sich beispielhaft und einzigartig in unser Gedächtnis eingeprägt haben.
Das «Werkverzeichnis» dokumentiert einerseits dieses Schaffen, anderseits geht es weit über eine reine Dokumentation hinaus und zeigt bei jedem Thema neben einem oder mehreren bekannten Bildern eine Fülle von bisher kaum gesehenen oder gänzlich unpublizierten Varianten.
Groebli legt damit seine ganze Schaffenskraft von rund sieben Jahrzehnten offen – und gibt uns damit ein interessantes Œuvre in die Hand, in dem er uns in seinem «Werkverzeichnis» Bilder zeigt, die Lust auf mehr machen. Die nach grösserem Format rufen. Die vielleicht in der Gruppe eine noch stärkere Geschichte erzählen würden als das ausgewählte Einzelbild. Ich denke beispielsweise an die Reportagen von Guatemala und Peru aus dem Jahre 1971, die weitgehend unbekannt sind, an die kreativen New York-Bilder, die sieben Jahre später entstanden waren oder an die Häuser und Landschaften von Irland – eine eindrückliche Schwarzweissreihe, die kaum bekannt ist.
Das Buch ist gerade auch für junge Fotografen eine hervorragende Sehschule, die einmal darin besteht das Gesamtwerk eines grossen Schweizer Fotografen kennenzulernen und sich davon inspirieren zu lassen, das aber anderseits auch eindrücklich zeigt, wie René Groebli bestimmte fotografische Themen über Jahrzehnte immer wieder neu, anders und kreativer angegangen ist. Und wie er anderseits immer und immer wieder neu Experimente wagte, sei es damals mit dominierender Farbe in der Werbefotografie (um ca 1960) oder sei es beispielsweise 1977 mit den Farb-Schwarzweiss-Kombinationen zum Märchen «Jessie im Wunderland».
Dann gibt es wieder «ruhigere» Themen im Buch, wie seine früheren Reportagen über London (1949), Paris (1948, 1949 und 1950), Schwarzweiss-Landschaften aus verschiedenen Epochen, die Waldbrand-Landschaften in Südfrankreich von 1980 bis 1990 oder Bilder, welche das Schweizer Brauchtum dokumentieren und eigentlich für René Groebli recht untypisch und deshalb unbekannt sind. Bei dieser grossen Themenvielfalt ist das Buch nicht chronologisch, sondern rein thematisch gegliedert, was es für den Betrachter sehr viel spannender macht.
Nicht übersehen darf man den begleitenden Textteil des Buches. Da ist vor allem das Essay von Hans-Michael Koetzle, einem der fundiertesten Fotokunstkenner, dem es gelingt das Wesen von René Groebli so zu schildern als ob er es selbst erzählen würde. Und dann kommt ein überaus interessanter Anhang hinzu, in welchen viele technische Begriffe erklärt werden, die in der heutigen Zeit der digitalen Fotografie nicht mehr unbedingt zum Grundwissen gehören.
Alles in allem: Das Buch ist mehr als ein «Werkverzeichnis». Es ist ein sorgfältig zusammengestellter Rückblick auf sieben Jahrzehnte Kreativität und Experimentierfreude eines ganz grossen Schweizer Fotografen.
Urs Tillmanns
Buchbeschreibung des Verlages
Mit der Veröffentlichung des Werkverzeichnis / Catalogue Raisonné des Schweizer Fotografen René Groebli (geb. 1927) präsentiert der Fotobuch-Verlag Sturm & Drang im Jahr 2019 nach diversen monothematischen Veröffentlichungen eine von Groebli persönlich ausgewählte Übersicht über sein fotografisches Schaffen. Von den frühen Arbeiten im Landdienst oder unterwegs mit der Dampflokomotive 1949 von Paris nach Basel bis hin zu seinen späteren, innovativen Farbaufnahmen oder Aktaufnahmen, die erst 2001/2002 entstanden sind, zeigt der 250-seitige Bildband 1200 Fotografien, darunter viele bisher unveröffentlichte Aufnahmen.
Diese detaillierte Übersicht zeigt das unbändige künstlerische Schaffen und den unstillbaren Experimentierwillen des Fotokünstlers erstmals zusammengefasst in einem grossen Bildband.
Mit einem Essay von Hans-Michael Koetzle und einem Kompendium zu den Arbeitsmethoden sowie einer Übersicht zu den bisherigen Veröffentlichungen und Ausstellungen.
Der Inhalt
Essay von Hans-Michael Koetzle
Magie der Schiene
Das Auge der Liebe
Karussell und Lichtpendel
London
Crystal Palace Park
Paris
Farbfotos
Landschaften
Beryl Chen
Guatemala & Peru
Odysseas Elytis
Verbrannte Bäume
Porträts
Muscheln und Assoziationen
Fantasies
Jessie im Wunderland
Irland
NewYork
«Babylon, Babylon»
Akt
Diverses
Kalender
Essay by Hans-Michael Koetzle (Englisch)
Technische Erläuterungen
Dye Transfer
Optische Montagen
Überblendungs-Montagen
Formate und Auflagen
Platin-Palladium-Verfahren
Platinum Palladium Prints
Platin-Portfolios
Biography
Ausstellungen
Persönliche Bücher
Diverse Publikationen
Der Autor
René Groebli (geb. 1927 in Zürich) kam 1945 in die Fachklasse für Fotografie von Hans Finsler an der Kunstgewerbeschule Zürich. Von 1946 bis 1948 absolvierte er als Erster in der Schweiz die Ausbildung zum Dokumentarfilm-Kameramann. Als Reportagefotograf führte er Aufträge für die Schweizer Zeitschrift «Die Woche», später für die Londoner Agentur «Black Star» aus. Mit seinen beiden ersten Buchpublikationen «Magie der Schiene» (1949) und «Auge der Liebe» (1954), besonders aber mit der Teilnahme an Edward Steichen’s Ausstellung «The Family of Man» an der Moma in New York zusammen mit Werner Bischof, Robert Frank und Gotthard Schuh, gehörte René Groebli zu den grossen Schweizer Fotografen. Den Fotojournalismus gab er nach kurzer Zeit auf und gründete in den 1950er Jahren ein eigenes Fotostudio für Werbe- und Industriefotografie. Groebli spezialisierte sich auf die Farbfotografie, experimentierte mit dem Dye Transfer-Verfahren und wurde vom US-amerikanische Magazin «Color Annual» 1957 als «Master of Color» geehrt. Heute widmet er sich wieder seinen freien künstlerischen Essays, nachdem er die wichtigsten Bilder seines gigantischen Bilderarchivs digitalisiert hatte.
Bibliographie
René Groebli «Werkverzeichnis – Catalogue Raisonné»
250 Seiten mit über 1200 Bildern, Festeinband, gebunden
Format: 29 x 30 cm, Texte deutsch und englisch
2019, S&D Sturm und Drang Publishers, Zürich
ISBN 978-3-906822-23-5
Preis: CHF 60.00 / EUR k.A.