Urs Tillmanns, 25. April 2015, 09:00 Uhr

Buchtipp: Martin Bichsel «Trans*Visit»

Martin Bichsel zeigt uns in seinem Buch elf Lebensgeschichten von Transmenschen. Es ist einerseits eine Reportage in Buchform, die uns aussergewöhnliche Lebensbilder zeigt, anderseits will Bichsel mit seinem Buch auch das Verständnis für eine Minderheit fördern, die in den verschiedenen Ländern unter sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen und gesetzlichen Bedingungen leben muss.

 

Ehrlich gesagt, zunächst hat mich das Buch nicht sonderlich angesprochen. Die Bilder zwar schon – es handelt sich um elf sehr gute fotografierte Einzelreportagen – das Thema jedoch weniger. Fast hätte ich es dem Verlag zurück geschickt, weil ich eigentlich nur Bücher bespreche, die ich meinen Lesern empfehlen kann. Dann habe ich es nochmals zur Hand genommen, habe mir die Bilder genauer angeschaut, und habe begonnen, die Texte dazu zu lesen. Die Geschichte des 23jährigen Erik, der es in Spanien dank einer progressiven Gesetzgebung relativ gut lebt und auch wieder einen Job hat. Schwieriger hatte es Angela in Albanien, die als Prosituierte arbeitete und oft in einem Café nicht bedient oder gar rausgeworfen wurde. Alex, der in Russland zwar das Gesetz gegen sich hat, aber dennoch gut über die Runden kommt. Oder die Geschichte von Diorella, die in Athen als Persönlichkeit respektiert wird, auch wenn ihr Traum, eine Schauspielschule zu besuchen, nie in Erfüllung ging. Und schliesslich der Japaner Rikuto, der früh seine Eltern verlor und jetzt dank einen soliden transhumanen Netzwerk zwar ein Studium absolvierte, jedoch als seine Lebensaufgabe die Enttabuisierung der Transition sieht und sich dafür auch öffentlich einsetzt.

Mit diesen spannend geschriebenen Lebensgeschichten von elf verschiedenartigen Schicksalen bekommt das Buch schlagartig einen neuen Sinn. Auch die Reportagen werden jetzt plötzlich personifiziert, man beginnt sich mit den Schicksalen auseinander zu setzen – zeigt sogar Verständnis für die Andersartigkeit dieser Menschen und dafür, dass sie oft in der Gesellschaft einen schwierigen oft verachteten Stand haben.

Die Reportagen sind fotografisch gelungen, und viele der Fotos wirken auch als ausdrucksstarke Einzelbilder. Sie erzählen spannende Geschichten von Menschen, die aus ihrer Identität ausbrechen und mit ihrer schwierigen gesellschaftlichen Stellung trotz Widerstand und Ablehnung umzugehen wissen.

Martin Bichsel greift mit seinem Buch eine interessante, weitgehend unbekannte Thematik auf und seine Bilder helfen dabei, sich in die Schicksale dieser Menschen hinein zu denken und mehr Verständnis für diese Minderheit aufzubringen. Das ist die Zielsetzungen, welche Martin Bichsel mit diesem Buch und seinem Langzeitprojekt verfolgt.

Urs Tillmanns

Buchbeschreibung des Verlages

Während fast einem Jahrzehnt hat der Schweizer Fotograf Martin Bichsel elf Transmenschen auf der ganzen Welt begleitet. Seine Reisen führten ihn nach Albanien, Griechenland, Russland, Irland, Japan, Tunesien, Spanien, Deutschland sowie in die Türkei, Ukraine und in die Schweiz.
Die Menschen, welche Bichsel über die Jahre getroffen und deren Lebensgeschichten er notiert hat, stammen aus allen sozialen Schichten, haben verschiedene Glaubensrichtungen und kulturelle Hintergründe.

Mit dem Buch überlässt uns der Fotograf glückliche Geschichten, aber auch solche, die von Diskriminierung, Ablehnung und Gewalt erzählen. So wird die Thematik in jedem Land unterschiedlich gelebt und in jeder Gesellschaft sind Transmenschen von einer anderen politischen, rechtlichen und realen Situation umgeben. Das Porträt des jungen Rikuto aus Osaka zeigt, wie sich in einem Land die Grenzen zwischen den Geschlechtern langsam ästhetisch auflösen und eine ganze Generation junger Menschen eine geschlechtsneutrale Sprache spricht.
Doch nicht überall entwickelt sich die Gesellschaft in diese Richtung, noch immer fehlt es an Sensibilität und Verständnis. In einigen Ländern werden Transmenschen nicht akzeptiert, ihnen wird eine Anstellung und somit Einnahmen verwehrt oder sie werden vom Schutz der Polizei ausgeschlossen. So leben sie vielerorts in Geldnot und ständiger Angst, weil sie niemand vor Gewalt und Ausbeutung schützt.

Mit dem Buch «Trans*Visit», einer Mischung aus Reportage und Kunstfotografie, sucht der Autor nicht in erster Linie die Anklage der Gesellschaft. Vielmehr soll das Langzeitprojekt für das Thema sensibilisieren. Es ist eine Momentaufnahme der heutigen Realität von Menschen unter uns und soll zum Nachdenken anregen, Wissenslücken schliessen und nicht zuletzt Transmenschen selbst Mut machen soll.

 

Der Inhalt

Bichsel_Transvisit_01
Michelle, 30, Türkei / Istanbul, 2005, 2006

 

Bichsel_Transvisit_03
Erik, 23, Spanien / Barcelona, 2006, 2007

 

Bichsel_Transvisit_04
Ina, 53 und Karin, 37 Deutschland / Berlin, 2006

 

Bichsel_Transvisit_05
Luba, 31, Ukraine / Kiew, 2007

 

Bichsel_Transvisit_06
Alex, 30, Russland / Kemerowo, 2009

 

Bichsel_Transvisit_07
Nora, 22, Tunesien / Tunis, 2011

 

Bichsel_Transvisit_08
Angela, 27, Albanien / Tirana, 2012

 

Bichsel_Transvisit_09
Vanessa, 48, Irland / Waterford, 2012

 

Bichsel_Transvisit_11
Diorella, 60, Griechenland / Athen, 2013

 

Bichsel_Transvisit_12
Rikuto, 21, Japan / Osaka, 2013

 

Bichsel_Transvisit_13
Lukas, 22, Schweiz / Oberdiessbach, 2014

 

Der Autor

MartinBichselMartin Bichsel ist freischaffender Fotograf und lebt in Bern. Geboren wurde er 1973 und wuchs im Emmental auf. Im Jahr 2000 beendete er die Ausbildung GaF (Gruppe autodidaktischer Fotografen) und arbeitet seitdem vor allem im redaktionellen Bereich. Ausserhalb von Auftragsarbeiten widmet sich Bichsel immer wieder eigenen künstlerischen Projekten. Zu seinen Arbeiten gehört auch die Ausstellung «flüchtig», welche Porträts von Asylsuchenden in Bern zeigt, und 2014 im Kulturlokal «Heitere Fahne» in Wabern sowie im «le cap» in der französischen Kirche in Bern zu Gast. Martin Bichsel widmet sich immer wieder Bereichen der Gesellschaft, welche mit Tabus behaftet sind und baut damit ist auch Teil des spartenübergreifenden Kollektivs «rueckenlage» und hat seinen Arbeitsplatz im Kulturzentrum «Progr» in Bern.

 

Bibliografie

Martin Bichsel
«Trans*Visit»
Hardcover, ca. 96 Seiten,
Format 21 x 27,5 cm
2014, Kommode Verlag, Zürich
ISBN 978-3‐9524114‐6‐9
CHF 26.90 / EUR 22,00
Das Buch kann hier online bestellt werden.

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