Im Staatsarchiv Aargau werden sieben Millionen Bilder katalogisiert und für die Nachwelt erhalten. Es ist dies der Bestand des ehemaligen Bildarchivs der Ringier AG in Zofingen, welches das Zeitgeschehen aller Lebensbereiche mit einmaligem Bildmaterial dokumentiert. Wie bearbeitet man ein solches Bildvolumen? Über diese immense Aufgabe und das geplante Vorgehen hat sich Fotointern.ch mit der Projektleiterin Nora Mathys unterhalten.
Frau Mathys, wie kommt man sich vor, wenn man vor sieben Millionen Bildern steht?
Reich. Sehr reich sogar. Lassen Sie mich den Umfang des gesamten Archivs in einem Satz zusammenfassen: Es lagern hier Bilder sämtlicher politischer, sportlichen und zeitgeschichtlichen Ereignisse – national und international – von 1934 bis zum Jahr 2000. Um die Vielfalt noch grösser zu machen, muss man sich vorstellen, dass nicht pro Ereignis ein Bild abgelegt wurde, sondern alles Bildmaterial, welches der Fotograf an die Bildredaktion abgeliefert hatte. Das ist ein enormer Multiplikator.
Nora Mathys bewältigt mit der Aufarbeitung des Archivs eine grosse und spannende Herausforderung. Unendlich viele Negative, Prints, Dias … das Archiv ist eine Sammlung sämtlicher Bildverfahren des 20. Jahrhunderts. Handschuhe sind hier oberstes Gebot!
Anderseits macht dies die Arbeit insofern interessanter, als man nachverfolgen kann, nach welchen Gesichtspunkten der verantwortliche Bildredakteur das beste Bild ausgesucht hat …
Das ist ein Aspekt. Der zweite ist, dass wir heute, wenn jemand beispielsweise über ein bestimmtes Event, welches er in der ‚Schweizer Illustrierten‘ von irgendwann gesehen hatte, einen Artikel verfassen will, nicht nur auf ein Bild hoffen kann, sondern gleich mit einer ganzen Bildserie von bisher unveröffentlichtem Material überrascht wird.
Man kann in den sieben Millionen Bildern also ganz gezielt nach Bildern suchen. Wie gehen Sie dabei vor? Sind die Bilder alle in einer Datenbank erfasst?
Ja und Nein. Nein wir sind noch nicht so weit, dass über den ganzen Bestand hinweg in einer Datenbank recherchiert werden kann. Und ja, man kann gezielt nach Bildern suchen und sie finden. Es handelt sich um einen analogen Bildbestand aus einer analogen Welt. Eine Aufnahme oder Reportage enthält viel mehr Informationen als nur den Bildinhalt – denken Sie an die Stempel und Beschriftungen auf der Rückseite. Es ist aber zu betonen, dass eine Recherche im Bestand selbst sehr effizient möglich ist. Wenn wir genaue Angaben zur nachgefragten Person, zum gesuchten Ereignis oder Thema haben, finden wir die Aufnahmen sehr schnell. Sie müssen sich vorstellen, dass damals bei Ringier dieses Bildarchiv das Bildkapital schlechthin war, und dass mit einem grossen personellen Aufwand alles fein säuberlich in Umschläge verpackt, angeschrieben und abgelegt wurde. Da waren Profis am Werk, und sie haben uns eine ordentliche Arbeit hinterlassen.
Archivschachteln und Stahlschränke soweit das Auge reicht! Alles ist professionell geordnet und beschriftet. Die Archivare von Ringier in Zofingen hatten damals einen super Job gemacht.
Hinter jedem Bild verbirgt sich doch eine Geschichte. Wie wissen Sie noch, worum es sich bei den Bildern handelt und wer auf den Bildern zu sehen ist?
Damals, in der analogen Zeit, hat man auf die Rückseite jedes Bildes oder auf die Fototaschen einer Reportage eine Kurzinformation geklebt, welche dann von den meisten Redaktionen als Bildlegende verwendet wurde. Ja, in der analogen Zeit ging das noch so einfach: Wir drehen ein Bild um, und wir wissen, worum es sich handelt und wann das Bild von wem fotografiert wurde – mit ultrakurzer Zugriffszeit.
Aber mal der Reihe nach: Wie war das Ringier Bildarchiv eigentlich entstanden?
Ringier AG in Zofingen ist ein riesiges Verlagsgebilde, zu dem die Schweizer Illustrierte, L’Illustré, Sie+Er, Das Gelbe Heft, Ringiers Unterhaltungsblätter, Cash, ab 1959 der Blick und später der Sonntags-Blick und viele andere Zeitschriften gehörten. Zwar hat Ringier die Fotografie früh in seinen Illustrierten verwendet, doch ein eigenes Bildarchiv hat Ringier erst nach der Gründung des Blicks 1962 angelegt. Sie konnten damals den Bilderdienst Arnold Theodor Pfister (ATP) kaufen und hatten damit einen mehrere Millionen schweren Fotobestand erhalten, der in den späten 1930er Jahre beginnt. Fortan wurden neben dem auf ATP basierenden Ringier Bilderdienst, der sein Archiv weiter pflegte, in den Redaktionen einzelne Handarchive angelegt. 1980 hat man das Bildmaterial nicht mehr auf den einzelnen Redaktionen abgelegt, sondern dieses in einem zentralen Bildarchiv der Ringier Dokumentation Bild mit einer professionellen Verwaltung gesammelt. Die Fotos wurden in verschiedene Bereiche aufgeteilt, in allgemeine Themen, Personen, Sport, Länder, Königshäuser, der Zweite Weltkrieg und viele andere mehr. Das Staatsarchiv Aargau übernahm 2009 das Archiv daher in einem gut geordneten Zustand.
Und doch wartet noch vieles darauf erfasst und eingeordnet zu werden. Sieben Millionen Bilder sind ein riesiger Berg!
Sind das Negative, Dias oder Papierabzüge?
Es sind zu 75 Prozent Negative und Dias. Die verbleibenden 25 Prozent sind Papierabzüge. Wir haben hier – und das macht die Sache gerade nochmals interessant – eine Sammlung sämtlicher Bildverfahren des 20. Jahrhunderts.
Daran dürfte auch der Zahn der Zeit nagen.
Das ist so, wobei gleich anzufügen ist, dass der Bestand insgesamt in einem guten Zustand ist. Aber gerade der hohe Zeitdruck bei der Herstellung der Pressefotografien hat dazu geführt, dass die Bilder oft nicht richtig fixiert und ausgewässert wurden. Die Vielfalt der Techniken ist aus konservatorischer Sicht eine Faszination, aber auch eine Herausforderung. Dank unseren bisherigen Analysen wissen wir aber, dass die Herausforderungen zu meistern sind.
Bilder erzählen ihre Geschichte. Manchmal ist die Bildrückseite wichtiger als das Bild selbst, denn jedes Foto trägt eine ausführliche und authentische Legende.
Wie gehen Sie vor, um diesen gigantischen Bestand aufzuarbeiten?
Wir haben ein klares Schema, wie wir unsere Aufbauarbeit gliedern, damit wir den vorgegebenen Zeitrahmen – und damit auch die Kostenstruktur – einhalten können. Es ging zunächst darum, den Inhalt und den Kontext zu erfassen, das Material zu bewerten, zu erschliessen und zu konservieren. Die Analyse und Grundbewertung ist nun nach fünf Jahren weitgehend abgeschlossen. Die Archivierungsarbeiten, also das Erschliessen und Konservieren laufen weiter – mit dem Blick auf den gesamten Bestand sprechen wir von einem Generationenprojekt. Nun, in einer zweiten Phase, kommen die Bekanntmachung und der Aufbau einer Trägerschaft hinzu. Parallel dazu steht das Digitalisieren auf der To-do-Liste. Und zum Schluss geht es noch darum, alle rechtlichen Aspekte abzusichern und das Bildmaterial an Interessenten zu vermitteln.
Zu jedem Ereignis gibt es mehrere Bildvarianten, und meistens wurde nur gerade ein Bild publiziert. So haben Historiker eine spannende Auswahl von Bildmaterial, das noch nie veröffentlicht wurde. Hier beispielsweise die Internierung von 40’000 Franzosen und Polen am 18./19. Juni 1940 im Jura, als Hitler seinen Westfeldzug begann.
Wäre es nicht naheliegender und zeitgemässer zunächst alles zu digitalisieren und danach das Material in Ruhe am Bildschirm evaluieren zu können?
Theoretisch wäre dies ein gangbarer, praktisch jedoch kein effizienter Weg. Das Scannen der Fotografien ist dabei das kleinste Hindernis. Enorm zeitaufwendig ist das Beschriften der Bilder. Die Erschliessung, wie man in der Archivwelt sagt, ist aber zentral, da die Bilder nur gefunden werden können, wenn sie auch beschriftet sind. Zudem fragt es sich, ob alle 7 Millionen online zugänglich sein müssen. Wir fahren vielmehr die Strategie, dass wir die Reportagen sowie Personen- und Themendossier erschliessen, so dass man weiss, dass dazu Bilder vorhanden sind. Digitalisiert werden zudem die dazugehörenden Archivkopien, also kleine Ansichten der Bilder. Einzelbilder werden nur auf Anfrage digitalisiert.
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Stöbern Sie mit im Ringier Bildarchiv: Hier einige Highlights in einer Diaschau.
Sieben Millionen Bilder, da sind ja auch viele Bilder darunter, die unwichtig geworden sind, bei denen man die geschichtlichen Hintergründe nicht mehr genügend kennt, oder die sonst nicht mehr von Interesse sind. Da drängt sich doch wohl eine Triage auf …
Es ist für uns natürlich eine Herausforderung zu entscheiden, was erhaltenswert ist und was nicht. Es kommt noch ein anderer Aspekt hinzu: Es geht hier nicht nur um Bildinhalte, sondern das Bildarchiv ist auch ein wichtiger Teil der Ringier Verlags- und Agenturgeschichte, und da haben wir als Staatsarchiv Aargau die Verpflichtung, diese zu erhalten. Der Bestand wird also nicht radikal verkleinert, sondern stellenweise nach Notwendigkeit und Möglichkeit reduziert. Wir sehen es als unsere Aufgabe, das Ringier Bildarchiv in seiner Gesamtheit zu erhalten, und diese einmaligen wertvollen Fotografien auch späteren Generationen zugänglich zu machen. Wir können damit auch Geschichtsforschenden und Autoren ein Tool bieten, dessen Wert man gar nicht beziffern kann.
Das Interview führte Urs Tillmanns
Weitere Informationen über das Ringier Bildarchiv im Staatsarchiv Aarau.
Beachten Sie auch unseren Artikel zur Übergabe des Archivs in 2009.
Nora Mathys (*1974) hat in Bern Geschichte studiert und in Basel in Kulturwissenschaft/Europäische Ethnologie promoviert. Sie war danach am Aufbau des vom Büro für Fotografiegeschichte Bern betriebenen online-Lexikons und Repertoriums (Foto-CH.ch) beteiligt. Seit 2009 ist sie Projektleiterin des Ringier Bilderarchivs im Staatsarchiv Aargau. Ihre Dissertation «Fotofreundschaften» –ist im Verlag «hier und jetzt» als Buch erschienen. |
Geschätzter Herr Tillmanns
Herzlichen Dank für den gut gemachten Staatsarchiv-Aarau-Artikel !
Im übrigen auch einmal noch ein grösseres DANKE für Ihr unermüdliches Engagement in Sachen Photoinformationen. (eigentlich unbezahlbar wertvoll!)
Als „analog“ Bevorzuger bitte ich um einen Einzahlungsschein, dann sende ich gerne einen Obulus.
Mit besten Grüssen
Walter Boeniger
Schöner Einblick. Dies ist mal ein Fotoarchiv, welches den Namen wirklich verdient! Über die beschrieben Behandlung der Bilder für die Nachwelt freut sich sicherlich jeder Fotograf (welcher die Ehre hat, dort vertreten sein zu können).
Hier werden Fotos noch wertgeschätzt!
Ergänzung zu einer Bildunterschrift oben:
„Hier beispielsweise die Internierung von 40’000 Franzosen und Polen am 18./19. Juni 1940 im Jura, als Hitler seinen Westfeldzug begann.“
Von den in der CH verbliebenen Polen leben noch drei, einer mein Vater(1921). Ein weiterer war der Vater von BL-SR Claude Janiak. In der „Sie+Er“-Zeitschrift von Ringier erschien 1943 ein aufschlussreicher Bericht über diese Flüchtlinge.