Die in Solothurn lebende Fotografin Ursula Müller hat ein interessantes Projekt realisiert, das nach einer kurzen Ausstellung anfangs Dezember in Form eines Bildbandes in der Edition Stephan Witsch erschienen ist. Das Buch ist mehr als die Reportage eines verlassenen Hauses … es ist eine Geschichte aus dem Leben mit Bildern, die zu uns sprechen und uns etwas erzählen wollen.
Man könnte beim Durchblättern des Buches meinen, man hätte sie gekannt, die einundachtzigjährige Hertha Ochsner-Schriebl, die zuletzt die Haushalt- und Eisenwarenhandlung in Speicher AR betrieb und nun nach einer Herzkrise nicht mehr in das Haus zurückkehrte. Ursula Müller hat alles dokumentiert – jedes Zimmer – unverändert, so wie es war. Sie gibt uns Einblick in den Lebensraum einer Frau, die zum Schluss alleine und ordnungsliebend dieses Haus bewohnt hat. Sie sollte es fotografieren als Erinnerung für die Nachkommen, bevor alles verändert, weggeräumt und auf Neu getrimmt würde – so der Auftrag …
Die Fotografin hat mehr als nur Dokumentationsbilder gemacht. Sie hat sich in das Thema vertieft, hat sorgsam und authentisch die Dinge bei vorhandenem spärlichen Licht fotografiert und gekonnt, ja perfekt alles ins Bild gesetzt. Es ist eine Sammlung von Einzelbildern und kleinen in sich geschlossenen Serien entstanden, die eine Geschichte erzählen. Eine spannende Geschichte. Die Geschichte einer Frau, die wir nun in diesem Bildband von Seite zu Seite näher kennen lernen.
Wir sehen die leeren Räume mit einer musealen Innenarchitektur aus den 1950er Jahren, wir sehen die Spuren des Lebens auf den Teppichen und Böden, wir sehen Kleider, Schuhe, dort eine Brille, da eine Personenwaage, hier eine Poschtitäsche, vergessene Bilder an den Wänden, das Treppenhaus, eine Lampe, die Giesskanne, eine Hermes Baby Schreibmaschine, auf der Hertha Ochsner-Schriebl wahrscheinlich ihre letzten Grüsse geschrieben hatte, weil es von Hand einfach nicht mehr so recht gehen wollte …
Ursula Müller erzählt im Umschlagtext, wie es dazu kam: «Hertha Ochsner-Schriebl habe ich nicht gekannt. Sie, die Mutter meiner ehemaligen Nachbarin. Gesehen habe ich sie vier oder fünf Mal vielleicht, im Vorbeigehen, das graue Haar hochgesteckt, auf dem Weg zu ihrer Tochter. Als junge Frau nach Kriegsende aus Österreich in die Ostschweiz immigriert, die vergangenen 45 Jahre daheim in Speicher AR, Ladeninhaberin eines Haushalts- und Eisenwarengeschäfts, bis kurz vor ihrem Tod mit 81 Jahren. Und doch durfte ich sie noch kennen lernen, auf ganz eigene Weise, durch ihr Haus nämlich, die Räume, die sie bewohnte, die Dinge, die sie benutzte, die Kleider, die sie trug, die Spuren, die sie hinterliess in ihrem Tun»
Still ist es geworden im stattlichen Haus mitten in Speicher. Das Buch des Lebens hat eine Seite umgeblättert, und was bleibt hat Ursula Müller auftragsgemäss für die Nachwelt erhalten. Auftragsgemäss? Nein, sie hat viel mehr daraus gemacht: Sie erzählt uns in ihren Bildern mit Spuren des Lebens eine Geschichte, die einen breiten Spielraum zur eigenen Interpretation und fantasievollen Vorstellung lässt. Die kleinen Bilder mit viel Leerraum laden zum Betrachten, Sinnieren und Nachdenken ein. Es bräuchte ihn eigentlich gar nicht, diesen deutsch und englisch eingestreuten Text, der uns die Hintergründe zu dieser Bildergeschichte schildert. Und doch: Barbara Liebster versetzt uns mit ihrer gekonnten Wortwahl genau in die Stimmung, die Ursula Müller empfunden haben muss, als sie das erste Mal das leblose Haus betrat und aufmerksam Raum für Raum entdeckte und sich im Geiste bereits die besten Standpunkte merkte. Doch, der Text gehört dazu, wenn man die Geschichte so erleben will, wie sie wirklich war und wie sie die Fotografin erlebt hat.
Neben den Bildern hat nicht nur der Text hohe Anerkennung verdient, sondern auch die grosszügige und gefällige grafische Gestaltung und die sorgfältige technische Ausführung des Buches. Das Buch wirkt gediegen, exklusiv, und schon der pergamine Schutzumschlag mit Titelaufdruck und dem nebulös durchscheinenden Paar Schuhen lässt erkennen, dass es sich bei dem Buch um etwas Aussergewöhnliches handeln muss.
Still ist es. Die Stille spricht aus den Bildern von Ursula Müller. Eine Stille, die hervorragend zum Jahresende passt, die zum Nachdenken über eine Vergangenheit anregen – nicht nur die Vergangenheit von Hertha Ochsner-Schriebl, sondern auch diejenige dieses Jahres, welches wir in diesen Tagen abschliessen. Ursula Müller erzählt uns die Geschichte dazu. Danke, Ursula …
Urs Tillmanns
Buchbeschreibung des Verlages
Als die Fotografin sich auf das Projekt einlässt, ahnt sie kaum, welche Herausforderung auf sie zukommt. Am Anfang steht ein scheinbar einfacher Auftrag. Die einundachtzigjährige Mutter ihrer Nachbarin liegt wegen einer Herzkrise im Krankenhaus, und es ist anzunehmen, dass sie nicht mehr wird nach Hause zurückkehren können. Die Nachbarin fragt Ursula Müller an, ob sie das Elternhaus in Speicher AR als Erinnerung für die Nachkommen fotografieren könne, ohne etwas darin zu verändern. Ursula Müller erkundet und fotografiert die vielen Zimmer, unten die Lager- und Arbeitsräume, oben, auf zwei Stockwerke verteilt, die Wohnräume. Nach zwei Tagen ist der Auftrag ausgeführt. Das Haus ist für die Nachkommen – unberührt – dokumentiert. Die Hausherrin stirbt.
Ursula Müller
«Still ist es»
96 Seiten, 24 x 30 cm,
72 Farbabbildungen
Hardcover mit Schutzumschlag
Text: Barbara Liebster, deutsch/englisch
Edition Stephan Witschi
ISBN 978-3-9523619-9-3
CHF 62.– / EUR 58.–
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Das Buch kann hier online bestellt werden.