Die Fotostiftung Schweiz in Winterthur zeigt noch bis 26. mai 2013 einmalige Flugaufnahmen von Georg Gerster. Es geht um das Thema «Ernährung», denn mit den zauberhaft verspielten Ornamenten und rätselhaften Patchworks will Georg Gerster aufrütteln: Die Ernährung der Menschheit ist eine der wichtigsten Schlüsselfragen unserer Zeit.
50 Jahre nach seinem ersten Fotoflug, zu dem er 1963 im Sudan startete, widmet ihm die Fotostiftung Schweiz in Winterthur eine monografische Ausstellung. Unter dem Titel «Wovon wir leben. Flugbilder von Georg Gerster» geht es dabei um das Thema Welternährung, ein Schwerpunkt in seinem Schaffen. Neben einigen Ikonen präsentiert die Schau auch viele unbekannte Werke.
Erntemuster in der Pampa, Argentinien, 1967 © Georg Gerster
Fliegen und fotografieren: Schon im 19. Jahrhundert hat die Verschmelzung dieser technischen Errungenschaften eine eigene Kategorie von Bildern hervorgebracht und eine ganz neue Wahrnehmung der Welt eröffnet. Waren es zunächst nur vereinzelte Ballonpioniere wie Felix Nadar (1820 bis 1910) oder Eduard Spelterini (1852 bis 1931), die das Glücksgefühl der überirdischen Perspektive in Fotografien festzuhalten versuchten, so erlebte die fotografische Sicht von oben vor allem dank den revolutionären Erfolgen der Luftfahrt zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen enormen Aufschwung. Sowohl im Zusammenhang mit militärischer Aufklärung als auch im Rahmen von künstlerischen Erneuerungsbewegungen entfaltete die Vogelperspektive ein ungeahntes Potenzial. Vertreter der Moderne wie Kasimir Malewitsch (1879 bis 1935) oder László Moholy-Nagy (1895 bis 1946) waren fasziniert vom Verfremdungseffekt und von der ästhetischen Wirkung des Flugbildes, Maler wie Filippo Marinetti (1876 bis 1944) oder Robert Delaunay (1885 bis 1941) liessen sich ganz direkt davon inspirieren. Vor allem in den 1920er Jahren stand der Blick von oben auch für die Hoffnung, die Beschränktheit der menschlichen Wahrnehmung zu überwinden. So nahmen viele Fotografen des «Neuen Sehens» die vertikale Sicht aus der Höhe geradezu programmatisch in ihre Bildsprache auf, um das Medium Fotografie von der gewohnten, horizontalen Zentralperspektive zu befreien. In der Schweiz hat zunächst der Flugpionier Walter Mittelholzer (1894 bis 1937), ab den fünfziger Jahren auch Emil Schulthess (1913 bis 1996) die aufklärerischen und ästhetischen Möglichkeiten der Flugfotografie erfolgreich kombiniert und auf ihre Weise zur Blüte gebracht.
Versalztes Weizenfeld bei Katanning, Westaustralien, 1989 © Georg Gerster
Journalismus, Wissenschaft, Werbung
In dieser Tradition steht auch der 1928 in Winterthur geborene Georg Gerster. Nach einem Studium der Germanistik in Zürich und einer Dissertation über Goethe begann Gerster seine berufliche Laufbahn in den fünfziger Jahren als Wissenschaftsredaktor der Zürcher Weltwoche, bevor er ab 1956 als selbständiger Bildberichterstatter in alle Himmelsrichtungen ausschwärmte. 1963 entdeckte er im Sudan den besonderen Reiz der Flugfotografie. Seither bereiste er nicht nur alle Kontinente, sondern publizierte auch dutzende von Bildbänden und präsentierte seine Flugbilder international in vielen Ausstellungen. Neben der Darstellung einzelner Länder befasste er sich immer wieder mit archäologischen Themen und lieferte wertvolle Beiträge zur visuellen Erforschung von kultur- oder naturgeschichtlichen Phänomenen. Gersters unstillbarer Wissensdurst sowie seine Fähigkeit, mit Bildern und Worten komplexe Zusammenhänge anschaulich zu vermitteln, spiegeln sich in unzähligen Beiträgen, die er als regelmässiger Mitarbeiter der Neuen Zürcher Zeitung und des National Geographic Magazine veröffentlichte. Seine Werke gingen aber nicht zuletzt dank der schweizerischen Fluggesellschaft Swissair ins kollektive Gedächtnis ein: Von 1971 bis 1996 produzierte die Swissair mit seinen Bildern ins gesamt 44 Werbeplakate (gestaltet von Emil Schulthess) sowie zahlreiche Wandkalender, die sich grösster Popularität erfreuten und dem Unternehmen ein unverwechselbares Gesicht gaben.
Weizenanbau bei Caparroso in Navarra, Spanien 1995 © Georg Gerster
Aufschlussreiche Ornamente
Wer Georg Gersters Flugbildern zum ersten Mal begegnet, sieht sich zunächst mit zauberhaft verspielten Ornamenten, rätselhaften Patchworks, streng geometrischen Mustern, kubistisch anmutenden Abstraktionen und einem intensiven, berauschenden Farbenspiel konfrontiert. Zuweilen verliert man auch die Orientierung, Mikro- und Makrokosmos scheinen ineinander zu fallen: Die Trampelpfade von Schafen rund um eine Tränke in Australien zum Beispiel erinnern durchaus an die Verästelungen unseres Nervensystems. Zugleich löst sich die Hierarchie der Dinge auf, und die etablierten Wertkategorien machen einer irritierenden Relativität Platz. So etwa, wenn das nicht ganz markttaugliche Gemüse auf einer Mülldeponie – Symbol der Verschwendung – aus der Luft betrachtet in den schönsten Regenbogenfarben erstrahlt. Bei alldem ist leicht zu erkennen, dass Gersters Bilder, meist aus grosser Flughöhe aufgenommen, keineswegs en passant entstanden sind. In den sorgfältig vorbereiteten und komponierten Werken kommt ein dezidierter Gestaltungswille zum Ausdruck, der jeden Betrachter sofort in seinen Bann zieht und nach Erklärungen suchen lässt. Tatsächlich sind die vom Fotografen mitgelieferten Informationen – in Form von Legenden oder ausführlichen Kommentaren – wesentliche Bestandteile seiner Arbeiten, und ihre wahre Bedeutung entfaltet sich erst in der Wechselwirkung von Bild und Text. Denn in dieser Kombination entpuppt sich das scheinbar harmlose Spiel mit den Oberflächen der Erde immer wieder als eine ernsthafte und hartnäckige Befragung der Wirklichkeit: «Ich sehe meine besten Flugbilder als Starthilfen für Gedankenflüge. Das Flugbild ist ein Werkzeug des Nachdenkens: Aus der Höhe sieht man nicht nur, was ist, sondern ebenso, was sein könnte – das Inventar unserer Chancen.»
Der Stern von Montady, Département Hérault, Frankreich 1972 © Georg Gerster
Bilder des «ökologischen Fussabdrucks»
Als engagierter Zeitgenosse hat Georg Gerster denn auch früh erkannt, dass sich Flugbilder hervorragend eignen, um über Themen wie Nachhaltigkeit oder den «ökologischen Fussabdruck» nachzudenken. Schon in seinem Buch «Brot und Salz» (1980) stellte er mit visuellen Mitteln die Frage, was die natürlichen Ressourcen hergeben und wo die Grenzen der Landnutzung zur Ernährung der Menschheit liegen. Und schon damals gingen seine Flugbilder weit über das Festhalten von spektakulären geografischen Phänomenen hinaus: «Landnutzung widerspiegelt mehr als nur Zwänge bodenkundlicher, betrieblicher, rechtlicher, topographischer oder gesamtwirtschaftlicher Art, die Landnutzung verrät auch etwas von Geisteshaltungen und Seelenzuständen.» Im selben Buch schrieb er: «Nutzung darf sich nicht allein am Ertrag orientieren, sie muss auch Verantwortung gegenüber Naturraum und Naturhaushalt übernehmen.» Die durch das Bild ausgelöste Reflexion kann das Bewusstsein für das prekäre Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur schärfen – an dieser Hoffnung hält Georg Gerster hartnäckig fest.
Felderviereck im Staat Mato Grosso, Brasilien 1966 © Georg Gerster
50 Werke zum Thema Welternährung
Die Ausstellung «Wovon wir leben. Flugbilder von Georg Gerster» nimmt das Thema der verfügbaren Ressourcen wieder auf. Mit 50 ausgewählten Werken aus 50 Schaffensjahren führt Gerster darin nicht nur die Schönheit und Einzigartigkeit unseres Planeten vor Augen, sondern erinnert auch daran, dass die Ernährung der Menschheit zu den Schlüsselfragen unserer Zeit gehört. Schon heute sind gemäss der UNO-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) rund 870 Millionen Menschen unterernährt, ebenso viele haben keinen Zugang zu Trinkwasser. «Jetzt steht die Frage im Vordergrund, wie die für 2050 prognostizierten 9,2 Milliarden Menschen ernährt werden können. Ernährungssicherheit um die Mitte des Jahrhunderts zu gewährleisten, ist eine gigantische Herausforderung; sie erfordert eine Steigerung der derzeitigen Ernteerträge um 70 Prozent. Die landwirtschaftlich genutzten Flächen lassen sich jedoch unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit wesentlich nicht mehr erweitern…». Kommt hinzu, dass die globale Nahrungsmittelproduktion immer mehr einem unheilvollen Agrarmonopoly gleicht: Wenige Grossproduzenten, internationale Konzerne und global agierende Investmentfonds kontrollieren riesige Territorien – und dies gewiss nicht mit humanitären Absichten. So betrachtet haben Georg Gersters Bilder, ohne mit plakativen Anklagen und Antworten aufzuwarten, auch eine eminent politische Komponente. Wer sich in seine Werke vertieft, darf sich durchaus von der Schönheit der Oberfläche verführen lassen, darf sich an der Ästhetik der gestalteten Bilder satt sehen – und wird gerade dadurch erkennen, was auf dem Spiel steht.
Fotostiftung Schweiz
Grüzenstrasse 45
CH-8400 Winterthur (Zürich)
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Öffnungszeiten:
Dienstag bis Sonntag 11-18 Uhr, Mittwoch 11-20 Uhr.
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Eintrittspreise:
Ausstellung Fotostiftung Schweiz: CHF 8.– (ermässigt 6.–)
Ausstellung Fotomuseum Halle+Galerie: CHF 10.– (ermässigt 8.–)
Ausstellung Fotomuseum Sammlungsräume: CHF 9.– (ermässigt 7.–)
Ausstellungspass: CHF 18.– (ermässigt 14.–)
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Der Verlag Neue Zürcher Zeitung NZZ hat 1988 zum sechzigsten Geburtstag Georg Gersters ein schönes Büchlein aufgelegt: Die Welt im Sucher. Wahrnehmungen Erkundungen Bestandsaufnahmen
Ausser auf dem Umschlag kein einziges Bild… Aus dem Inhaltsverzeichnis:
Russlands schlechtestes Geschäft-Die Dogon, ein Volk des Widerstands-Ein Fisch geht auf die Strasse. Hoffe es findet sich online die ganze Liste.