Urs Tillmanns, 10. Juni 2011, 14:00 Uhr

Fabian Biasio: «Zwanzigjahre – Spurensuche in Ex-Jugoslawien»

Fabian Biasio begibt sich auf Spurensuche im Balkan, zwanzig Jahre nach Beginn des Bürgerkrieges in Ex-Jugoslawien: 12’000 Kilometer in drei Monaten, durch 25 Wohnzimmer oder Büros, entlang einer Menschenkette von Kontakt zu Kontakt. Das multimediale Resultat ermöglicht ein Eintauchen in eine fremde und doch nahe Welt.

Krieg. Auch für den Luzerner Fotografen Fabian Biasio war Krieg einst nur ein Wort. Ein Wort, das in Erzählungen der Eltern vorkam – in Geschichtsbüchern, Schulstunden, in den Medien. Ein Wort, unter dem sich der junge Mann wenig vorstellen konnte. Das änderte sich vor zwanzig Jahren, im Juni 1991. Damals begann der Krieg im ehemaligen Jugoslawien zu wüten. Praktisch vor der Haustüre des damals 15-Jährigen, der Jugoslawien noch aus einem Familienurlaub kannte. Das liess den jungen Mann nicht ruhen. 1995 reiste er erstmals nach Bosnien. 1999 besuchte er den Kosovo. «Die Nato war schon da und ich empfand die Reise als recht gefahrlos. Doch meine Mutter hatte keine Freude.»

Zwanzig Jahre danach: Fabio Basio hat das ehemalige Jugoslawien besucht und Zeitzeugen des Krieges porträtiert

Auf dieser Reise lernte Fabian Biasio die damals zwölfjährige Vlora Shabani aus Llasticës kennen. Erst drei Monate war es her, dass sie ein Massaker leicht verletzt überlebt hatte. Am 30. April 1999 trieben Serben ihre Familie und Nachbarn ins Wohnzimmer und eröffneten das Feuer. Vlora sah, wie ihre Mutter ihrem zweijährigen Bruder die Ohren zuhielt, bevor beide erschossen wurden. Der engagierte Fotograf besuchte das Mädchen regelmässig, nahm Anteil und dokumentierte ihr Heranwachsen in eindrücklichen Bildern. Diese Geschichte ist Teil des Projekts «Zwanzigjahre – Spurensuche in Ex-Jugoslawien». In Tönen und Bildern sucht Biasio Spuren des Krieges in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens und verwebt sie auf der multimedialen Homepage www.zwanzigjahre.ch zu einem interaktiven Roadmovie.

Fabian Biasio mit Andrea und Nando im ehemaligen Jugoslawien

Im Frühling 2010 reiste Fabian Biasio mit Ehefrau Andrea und dem damals 15 Monate alten Nando im Wohnmobil 12’000 Kilometer durch alle Länder des ehemaligen Jugoslawiens, von Slowenien bis nach Mazedonien. Möglich machte diese Reise ein Stipendium der Stiftung Otto Pfeifer. «Wir besuchten Menschen in 25 Wohnzimmern oder Büros. Ich zeichnete sieben Stunden Interviews auf, schoss 5064 Fotos.» Für den Juni 2011, zwanzig Jahre nach Kriegsbeginn, bucht Biasio jetzt Plakatflächen in Zürich und Luzern sowie die E-Boards an den Hauptbahnhöfen, um für www.zwanzigjahre.ch zu werben.

Viele der Porträtierten werden die damaligen Ereignisse nie verarbeiten können. Die Bilder von Fabio Biasio klagen an …

Sohn Nando lernte im Minengebiet laufen

Speziell war die Reise für den kleinen Nando. «Unser Sohn lernte in einem Minengebiet laufen. Wir durften mit ihm nicht über die saftig grünen Frühlingswiesen Bosniens spazieren. Ich bin noch heute darauf konditioniert, aufzupassen. Beim ersten Schritt ins Dickicht blitzt bei mir ein Warnschild auf im Kopf: ‚Stopp. Minenfelder!‘ Das sind zwar nur Sekundenbruchteile der Unsicherheit, aber sie sind ständig da, kehren immer wieder.»

Kernpunkt des Projektes ist die Suche nach Spuren des Krieges bei den Menschen der ersten, zweiten und dritten Generation. Biasio versucht Fragen zu beantworten. Fragen wie «Können die Opfer den Tätern vergeben?», «Welche Chancen bestehen, den Hass zu überwinden?», «Welche Perspektiven haben die Völker des Balkans?». Fabian Biasio: «Die wahren Spuren des Krieges sind vor allem in den Überlebenden, den Lebenden zu finden – obwohl sich viele Betroffene bemühen, das schreckliche Geschehen zu vergessen.»

Interviewte erzählen Grauenvolles und Heiteres

Die Porträtierten erlebten mit den Ereignissen, die vor bald zwanzig Jahren über ihr Leben hereinbrachen, dramatische Änderungen und Einschnitte. In knapp 50 Interviews erzählen Menschen jeden Alters Grauenvolles und Heiteres, Polemisches und Umsichtiges. «Im Vordergrund steht nicht die Wahrheit. Die ist schon lange gestorben in diesem blutigen Krieg», sagt Biasio. «Die direkten Gespräche mit den Menschen in den sieben Balkanstaaten sind eine ehrliche Bestandesaufnahme. Die Bestandesaufnahme einer Zeit, in der die Kinder der Direktbetroffenen diesen Krieg nur noch aus der Erzählung ihrer Eltern kennen.» Mit seinem Projekt öffnet Fabian Biasio den Schweizerinnen und Schweizern das Fenster in ein Wohnzimmer irgendwo in Ex-Jugoslawien: «Gleichzeitig werden unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger aus dem Balkan daran erinnert, dass uns ihr Schicksal, sowohl als Opfer wie auch als Täter, nicht egal ist.»

Text: Martin Schuppli

Wo sind die Bilder zu sehen?

  • Timbuktu-Postkarten werden im Raum Luzern verteilt
  • eBoards in den Bahnhöfen Zürich, Bern, Basel, Luzern undWinterthur): 10 verschiedene Sujets, noch bis 26. Juni 2011
  • APG-Plakate Luzern: 10 verschiedene Sujets ab 20.06.2011 (mind. zwei Wochen)
  • APG-Plakate Zürich: 10 verschiedene Sujets ab 27.06.2011 (mind. zwei Wochen)
  • Kinos Bourbaki, Riffraff und Xenix: 1 Sujet (Kinowerbung) ab Mitte Juni

 

Weitere Informationen finden Sie auf der Webseite www.zwanzigjahre.ch.

 

Ein Kommentar zu “Fabian Biasio: «Zwanzigjahre – Spurensuche in Ex-Jugoslawien»”

  1. Eine sehr tolle Arbeit! Es ist sehr schön, dass sich jemand mit diesem Thema auseinandergesetzt hat und den Leuten die aktuelle Lage in heutigen Ex-Jugoslawischen Ländern etwas näher bringt. Tolle Fotos und interessante Interviews!

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