Urs Tillmanns, 30. August 2009, 07:00 Uhr

Kodak Ektra: Meine hässlichste Geliebte

In meiner Kamerasammlung nimmt sie eine Sonderstellung ein, die Kodak Ektra. Sie war nicht nur die aufwändigste und komplizierteste Kamera, die Kodak in Rochester je produziert hatte, sondern sie war mit vielen konstruktionstechnischen Besonderheiten ihrer Zeit voraus. Wie ist es zu dieser eigenartigen Kamera gekommen?

Man muss sich das Jahr 1941 geschichtlich vor Augen führen, um zu verstehen, weshalb sich Kodak in das Abenteuer dieser Konstruktion stürzte. In Europa war seit zwei Jahren Krieg, Amerika stand unmittelbar davor. Die Leica- und Contax-Kameras kamen immer spärlicher über den Atlantik – und wenn, dann zu überteuerten Graumarktpreisen. Die amerikanischen Kamerahersteller hat nichts zu bieten, was auch nur annähernd an die Qualität deutscher Kameras herankam. Aber die Nachfrage war da. Die Newsreporter bereiteten sich allmählich darauf vor, dass auch sie von den grossformatigen Graphic-Kameras mit Kolbenblitz auf handliche Kleinbildkameras umsteigen müssten, denn in der Reportage-, sprich Kriegsfotografie, war alles andere undenkbar.

Voder- und Rückseite

Joseph Mihalyi – ein genialer Kamerakonstrukteur

Viele Kodak-Kameras tragen unverkennbar die Handschrift von Joseph Mihalyi, sei es eine Super Kodak Six-20, eine Medalist oder die Kodak Bantam Special. Die Kodak Ektra passt schlichtweg nicht in diese Linie, denn offensichtlich gab es Vorgaben, die dem Design übergeordnet waren.

Nimmt man die Ektra zur Hand, so muss man zunächst ein paar Orientierungsminuten einschalten – wenn man überhaupt ohne die seltene Bedienungsanleitung auskommt. Der Auslöser ist auf der linken Seite zu finden – was zur irrigen Annahme führte, Mihalyi sei Linkshänder gewesen; war er aber nicht. Hingegen ist auf der rechten Seite ist ein grosses Einstellrad zu entdecken, dessen Skala zunächst überhaupt keinen Sinn macht und mit fotografischen Kenngrössen nichts zu tun haben scheint. Suchereinblicke gibt es gleich zwei, und wer versucht den Verschluss zu manipulieren, wird wahrscheinlich die schmerzliche Erfahrung machen, dass dieses Teil längst das Zeitliche gesegnet hat. Kenner vermuten, dass über 95 Prozent der noch existierenden Ektras nicht mehr funktionieren. Meine gehört übrigens auch dazu …

Bezeichnungen

Die Kamera war in ihrer Konzeption auf den professionellen Einsatz ausgelegt und sieht mit der eigenartigen Anordnung der Bedienelemente mehr als ungewohnt aus. Einen Design-Preis hätte Mihalyi dafür sicher nie bekommen … Und trotzdem bin ich in diese hässlichste meiner Kameras verliebt. Sie ist in mancherlei Hinsicht so unmöglich und technokratisch, dass sie durch ihre Eigenart und die komplizierte Bedienung zum Staunen Anlass gibt. Aber ohne Zweifel war sie ihrer Zeit in mancherlei Hinsicht voraus und verfügte über Ausstattungsmerkmale, die erst viel später in europäischen Modellen zu finden waren. Die Kodak Ektra war 1941 die erste Kleinbildkamera welche

  • mit einem Wechselfilmmagazin ausgestattet war,
  • einen brennweitenabhängigen Durchsichts-Zoomsucher mit Parallaxausgleich bot,
  • über einen Filmtransporthebel und eine Filmrückspulkurbel verfügte,
  • einen hochpräzisen, gekuppelten Entfernungsmesser mit einer Basis von 102 mm besass und
  • ein reichhaltiges Zubehörsortiment mit Objektiven von 35 bis 153 (und geplanten 254) mm aufwies, deren Einzellinsen durchwegs vergütet waren.

Wechselmagazin

Erste Kleinbildkamera mit Wechselfilmmagazin

Eine Kleinbildkamera mit Wechselmagazin war 1941 eine Sensation. Man konnte ein Magazin mit einem Schwarzweissfilm und ein zweites mit einem Farbfilm laden und so die Motive wahlweise mit dem gewünschten Film aufnehmen. Oder man konnte je nach Lichtverhältnissen einen niedrigempfindlichen Film gegen einen hochempfindlichen austauschen. Allerdings ist das Wechseln des Filmmagazins eine ziemliche Fummelei und bei weitem keine «Sache von Sekunden», wie es in der Bedienungsanleitung angepriesen wird. Die Magazine wurden übrigens im Werk exakt auf das Gehäuse abgestimmt und waren nicht unter mehreren Kameras austauschbar. Beim Magazinwechsel musste die verbleibende Anzahl Bilder auf einer Merkscheibe am Filmmagazin eingestellt werden, damit man diese beim Wiederansetzen des Magazins  auf das  «automatische» Bildzählwerk der Kamera übertragen konnte. An einer zweiten Merkscheibe des Magazins konnte der Filmtyp eingestellt werden. Zur Auswahl standen damals von Kodak der Allroundfilm Plus-X, der Feinkornfilm Panatomic-X, der höchstempfindliche Super-XX, der Direct Positive Film für Schwarzweissdias, der Infrarotfilm, der Micro-file Film für Dokumentenaufnahmen und der Kodachrome-Film für Farbdias zur Auswahl.

Andersartiges Bedienkonzept

Einen besonders grossen Entwicklungsaufwand hat Kodak in den horizontal ablaufenden Schlitzverschluss gesteckt. Für die Verschlusszeiten-Einstellung gibt es an der linken Kameraoberseite zwei Einstellräder, eines für die Langzeiten B, 1, 1/2, 1/5, 1/10 und eines für die Kurzzeiten 1/25, 1/50, 1/100, 1/250, 1/500 und 1/1000. Zur Einstellung der Kurzzeiten musste das Wählrad hochgezogen werden, womit verhindert wurde, dass die Verschlusszeit versehentlich verstellt werden konnte. Ganz links aussen befand sich der Auslöser, was verschiedentlich zu Spekulationen Anlass gab, Mihalyi wäre Linkshänder gewesen.

Bedienelemente

Dem war nicht so, sondern der Konstrukteur sah bei der Bedienung der Kamera ein völlig neues und seither nicht wieder aufgegriffenes Konzept vor: Mit der rechten, meist stärkeren Hand sollte die Kamera gehalten werden, ohne irgendwelche Einstellungen vornehmen zu müssen, während die linke Hand die Einstellungen von Verschlusszeit, Entfernung (Grob- und Feineinstellung vorne an der Kamera) und Blende (vorne am Objektiv) vornahm, sowie den Filmtransport und Verschlussaufzug mit zwei Halbschwüngen am Filmtransporthebel an der Kamerarückseite vornahm. Ein völlig neues Bedienkonzept also, dass sich grundsätzlich von allen bisherigen Kleinbildkameras unterschied. Konsequenterweise waren mit der rechten Hand nur Elemente zu bedienen, die man selten brauchte, wie die Brennweiteneinstellung des Durchsichtssuchers und die Dioptrieeinstellung für den Entfernungsmesser-Einblick. In der Mitte der Kameraoberseite befand sich das automatische Bildzählwerk und die Verschlussanzeige, die darüber Auskunft gab, ob der Film bereits transportiert wurde.

Der von Mihalyi am 9. Januar 1940 mit Nr. 2’186’614 patentierte Verschluss der Ektra war eine komplizierte und pannenanfällige Konstruktion. Verschiedene Erfahrungsberichte bezeichnen diesen als absolut unzuverlässig, was sich in der Folge darin bestätigte, dass die meisten Ektras heute nicht mehr funktionieren. Jedenfalls an die Präzision und Langlebigkeit der europäischen Verschlüsse in den Leica- und Contax-Modellen kam der Ektra-Verschluss nie heran.

Der doppelte Sucher

Ein konstruktionmässiger Meilenstein war der Entfernungsmesser der Ektra. Dieser war mit der Entfernungseinstellung gekoppelt und wies auf Grund der extrem grossen Basis von 102 mm eine Messpräzision auf, die wohl kaum zu übertreffen war. Wie bei allen vergleichbaren Kameramodellen jener Zeit – auch bei den Vorkriegs-Leica-Modellen (II, Standard, III, IIIa) – waren die Einblicke für den Sucher und den Entfernungsmesser getrennt. Allerdings lagen die beiden Einblicke bei der Ektra nur 12 mm auseinander, während diese Distanz bei den Leica-Modellen 37 mm betrug. Die aufwändige mechanische und optische Konstruktion des Suchers geht aus der untenstehenden Abbildung hervor, und nicht zuletzt hat diese komplexe und hoch präzise Baugruppe die Kamera massiv verteuert.

entfernungsmesser_fi

Objektive und Zubehör

Einen grossen Entwicklungsaufwand hat Kodak auch in die Objektivpalette und das Zubehörsortiment gesteckt. Zur Kodak Ektra gab es folgende Objektive:

Objektive

  • 1:3,3 / 35 mm
  • 1:1,9 / 50 mm (7 Linsen)
  • 1:3,5 / 50 mm (4 Linsen)
  • 1:3,5 / 90 mm
  • 1:3,8 / 135 mm
  • 1:4,5 / 153 mm
  • 1:4,5 / 254 mm (geplant, wurde jedoch nicht hergestellt)

Eine Besonderheit dieser Objektive war die Vergütung. Während es damals in der Massenoptik üblich war, lediglich die Frontlinse zu vergüten, wurden bei den Kodak Ektar Objektive sämtliche Linsen beidseitig mit einem Antireflexbelag versehen – ein damals sehr aufwändiger und kostspieliger Prozess mit dem Ziel, die Kontrastleistung der Objektive zu optimieren. Zudem beteuerte Kodak, dass sie besonders der Farbkorrektion höchste Beachtung geschenkt hatte, um damit ein Maximum an Schärfe zu erreichen.

ohne Objektiv

Auch was die Objektivbefestigung anbelangt wählte Kodak keine Bajonettfassung wie Leica und Contax – wahrscheinlich, um allfälligen Patentverletzungen auszuweichen. Zum Objektivwechsel muss der Entriegelungsknopf seitlich des Stativgewindes gedrückt werden, damit der grosse Gewindering, welcher das Objektiv am Gehäuseflansch hält, mit anderhalb Umdrehungen losgeschraubt, bzw angezogen werden kann. Dabei greifen sechs Nocken der Entfernungseinstellung in den Entfernungsdrehring ein und garantieren die Übereinstimmung der Entfernungseinstellung mit dem gekoppelten Entfernungsmesser.

Zur Entfernungseinstellung gibt es zunächst den grossen Drehring am Objektiv als Grobeinstellung sowie einen kleineren Rändelknopf an der Gehäusevorderseite zur Feineinstellung. Die Objektive 1:3,5/35 mm, 1:3,5/50 mm und 1:1,9/50 mm verfügen über zwei Entfernungsbereiche von Unendlich bis 3,5 Fuss und von 3,5 bis 1,5 Fuss für den Nahbereich, die mit einer Verriegelung getrennt sind.

Sucher

Weiter existierte zur Ektra ein breites Sortiment an Zubehörteilen, darunter Winkelsucher, Einstellmattscheibe, Spezialsucher für Nahaufnahmen, ein ganzes Filtersortiment und ein Blitzgerät, das über den Auslöserdruckpunkt synchronisiert wurde.

Eine Kamera sucht ihren Markt

Als die Kodak Ektra 1941 auf den Markt kam, stand Amerika mit dem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg vor wirtschaftlich unsicheren Zeiten. Ein schlechter Zeitpunkt also für die Markteinführung einer Kamera, die 300 Dollar kostete – was rund zwei durchschnittlichen Monatslöhnen entsprach, oder nach heutiger Kaufkraft satten 4’470 Dollar. Damit war die Ektra wenigen Journalisten, Industriefirmen, Wissenschaftlern und Spezialisten vorbehalten, die beruflich auf eine Kamera mit dieser aussergewöhnlichen technischen Ausstattung und äusserst präzisen Fertigung «für höchste fotografische Qualitäten» angewiesen waren. Das erklärt auch, weshalb von der Ektra nur rund 2’000, nach anderen Quellen 2’500 Exemplare bis zu ihrem Produktionsende 1948 hergestellt wurden. Zuletzt kostet die Ektar stolze 700 Dollar – das sind nach heutiger Kaufkraft mehr als 6’000 Dollar. Kodak hatte noch eine verbesserte Version Ektar II entwickelt, die mit einem Federwerkmotor versehen werden konnte. Es soll davon drei Prototypen gegeben haben, doch die Zeit der Ektar schien endgültig vorbei zu sein.

Immerhin darf die in Europa recht seltene Ektra den Ruf der besten (und kompliziertesten) je in Amerika gefertigten Kamera für sich in Anspruch nehmen.

Kodak Ektra

Die Bedienungsanleitung der Kodak Ektra stammt von www.orphancameras.org, die über 3’500 Kamera-Gebrauchsanleitungen zum Downloaden anbietet und dabei auf Ihre Nutzungsspende angewiesen ist.

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