Urs Tillmanns, 5. März 2022, 14:36 Uhr

Buchtipp: «Roberto Donetta – Fotograf und Samenhändler aus dem Bleniotal»

Nein, das Buch ist nicht neu. Ich bin per Zufall drauf gestossen, und spontan möchte ich diesem Buch jene Bekanntheit geben, die es verdient. Mehr Bekanntheit nicht nur für das Buch, sondern auch für den Fotografen Roberto Donetta (1865 – 1932), der zu den wichtigsten Fotografen des Tessins gehört, dessen Bilder es jedoch nie wirklich «über den Gotthard» geschafft haben. Deshalb ist dieser Bildband in fotogeschichtlicher, lokalhistorischer und ästhetischer Hinsicht besonders wertvoll.

Die Berufsbezeichnung «Samenhändler und Fotograf» lässt erahnen, dass Roberto Donetta in sehr ärmlichen Verhältnissen lebte. Er wuchs mit seinen drei Geschwistern in Corzoneso, im Bleniotal, auf und hatte mit Teodolinda Tinetti sieben Kinder. Während den Wintermonaten arbeitete er als Marroniverkäufer in Norditalien, war kurze Zeit Militärbeamter, versuchte mit einem Lebensmittelladen in Corzoneso durchzukommen und verliess schliesslich das Bleniotal, um in London Geld zu verdienen. Nach seiner Rückkehr verkaufte Donetta ab 1895 Gemüse- und Blumensamen, lernte den Bildhauer Dionigni Sorgesa kennen, der ihn in die Fotografie einführte. Seine Frau glaubt nicht daran, dass er mit der kostspieligen Fotografie die grosse Familie ernähren könnte und verliess ihn mitsamt den Kindern. Dann kommt der Erste Weltkrieg und die nachfolgende Wirtschaftskrise, die ihn noch weiter in den finanziellen Engpass treibt. Seine Ausrüstung wird gepfändet, um damit die Schulden bei der Gemeinde zu decken. Einsam und verarmt stirbt er 1932. Nur die mehr als 5000 Platten blieben in seinem Wohnhaus, der Casa Rotonda in Casserio erhalten, wo sich seit 1993 das «Archivio Donetta» befindet.

Das Buch gibt einen hervorragenden Einblick in das Leben von Roberto Donetta, einem begabten Fotografen, der in seinem abgelegenen Bleniotal im frühen 20. Jahrhundert keine finanziell genügend starke Kundschaft fand, um seinen Schaffenswillen zu stillen und zu überleben. Er hinterlässt uns ein umfangreiches und interessantes fotografisches Erbe, welches die Leute und ihr Leben im Bleniotal eindrücklich dokumentiert. Dieses ist auch der Inhalt des vorliegenden Bildbandes, der mit sechs Texten lesenswert ergänzt ist.

Die Autoren dieses Buches charakterisieren mit ihren Artikeln nicht nur die Person von Robert Donetta umfassend, sondern sie vermitteln uns auch die damalige Arbeitsweise eines Fotografen in einer der abgelegensten und ärmlichsten Regionen der Schweiz. Marco Franciolli erzählt uns in seinem Vorwort, wie es zur Entdeckung des fotografischen Nachlasses von Roberta Donetta und zur gleichnamigen Stiftung kam, welche sich um die Bearbeitung und Archivierung des Nachlasses von Donetta kümmert. Gian Franco Ragno entführt uns in die Zeitepoche Donettas und die Anfänge der Fotografie im Tessin – ein Gebiet über das bisher nur sehr wenig geforscht wurde. Mathias Böhni vermittelt uns in «Spuren eines Sonderlings» viele biografische Details über Donetta im sozialhistorischen Kontext zum damaligen Tessin. Er charakterisiert Donetta als «eigensinnigen, kreativen Querkopf, der hartnäckig sein Metier betrieb und nicht ans Weggehen dachte». David Streiff analysiert in «Donetta, der Erzähler» die Bilder von Donetta mit den vielen Porträts, Gruppen- und Hochzeitsfotos bis hin zu den damals üblichen Totenbildern, die uns viel über das Leben der Bevölkerung vermitteln und bespricht die Art und Weise, wie Donetta diese fotografisch dokumentierte. Dann richtet Peter Pfrunder in seinem Aufsatz «Donettas Kinder» das Augenmerk besonders auf die vielen eindrucksvollen Kinderporträts, die zwar alle ernst dreinblicken, wie es damals bei Porträts üblich war, die aber trotz ihrer Armut auf den Bildern keinen unglücklichen Eindruck machen. Donetta scheint dazu bei seinen Aufnahmen sehr gut Regie geführt zu haben. Und zum Schluss befasst sich Antonio Mariotti in «Ein moderner Fotograf» mit der Art und Weise wie Donetta die Menschen fotografiert hat, wie er seine Gruppenaufnahmen sorgsam und wohlüberlegt arrangiert hat und dabei viele moderne gestalterische und experimentelle Aspekte ins Spiel brachte.

Für wen ist dieses Buch? Es zeigt uns einerseits als wertvolles, sozialhistorisches Dokument das Leben der im Anfang des 20. Jahrhunderts sehr armen Bevölkerung des Bleniotals und entreisst anderseits das fotografische Lebenswerk von Roberto Donetta der Vergessenheit. Ein Bildband also, der sowohl für fotohistorisch Interessierte von grosser Bedeutung ist, der aber anderseits das Tessin aus einer unbekannten Perspektive präsentiert – aus jener eines hervorragenden Fotografen, dessen Werk zu Lebzeiten und bis in die Gegenwart zu wenig gewürdigt wurde.

Urs Tillmanns

 

Buchbeschreibung des Verlages

Der Tessiner Roberto Donetta (1865–1932) gehört zu den grossen Aussenseitern der Schweizer Fotografie. Er fristete sein Leben als wandernder Fotograf und Samenhändler und hinterliess nach seinem Tod rund 5000 Glasplatten, die sich durch Zufall erhalten haben: Sie halten das archaische Leben seiner Landsleute im damals noch abgeschotteten Valle di Blenio und den langsamen Einzug der Moderne präzis und einfühlsam fest.

So wurde Donetta in einer Epoche des Umbruchs über die Zeitspanne von dreissig Jahren zu einem einzigartigen Chronisten, verstand sich aber gleichzeitig als Künstler, der – als Autodidakt – mit grosser Freiheit experimentierte und sein Medium virtuos einzusetzen wusste. Seine Bilder sind eindringlich und humorvoll, heiter und todernst, ob sie Kinder, Familien, Hochzeitspaare, Berufsleute, den harten Alltag von Frauen und Männern oder den Fotografen selbst zeigen.

Mit Donetta wird das Tessiner Bleniotal zur Bühne eines grossen Welttheaters. Die in diesem Buch versammelten Fotografien sind grösstenteils noch nie publiziert worden.

 

 

Der Inhalt

Wiedergeburt eines fotografischen Vermächtnisses (Marco Franciolli)

Donetta und seine Zeit (Gian Franco Ragno)

Spuren eines Sonderlings (Mathias Böhni)

Donetta, der Erzähler (David Streiff)

Donettas Kinder (Peter Pfrunder)

Ein moderner Fotograf (Antonio Mariotti)

Anhang

 

Die Autoren

Marco Franciolli
Direktor des Museo d’Arte della Svizzera italiana, MASI Lugano
Gian Franco Ragno
Fotohistoriker, Mitarbeiter am Museo d’Arte della Svizzera italiana, MASI Lugano
Mathias Böhni
Journalist, Redaktor, Lehramt für Deutsch und Geschichte
David Streiff
Kunsthistoriker, Direktor des Filmfestivals in Locarno, Direktor des Bundesamtes für Kultur.
Peter Pfrunder
Direktor und Kurator der Fotostiftung Schweiz in Winterthur
Antonio Mariotti
Redaktor und Ressortleiter Kultur des Corriere del Ticino, Direktor der Stiftung Robert Donetta

 

Bibliografie

Roberto Donetta – Fotograf und Samenhändler aus dem Bleniotal

232 Seiten, Leinen-Hardvover, gebunden, 165 Fotografien Duplex
Format 23 x 24,5 cm, Mai 2016
Herausgegeben von Gian Franco Ragno und Peter Pfrunder
Limmat-Verlag, Zürich
Preis: CHF 68.–, EUR 68.–
ISBN 978-3-85791-807-0

Das Buch ist im Buchhandel erhältlich, kann direkt beim Verlag bestellt oder im Ausland hier geordert werden.

 

 

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