Der Bildband von Gerd Ludwig über Tschernobyl ist keine Neuerscheinung, doch drängt uns die Jährung des Ereignisses dazu, dieses einmalige Buchwerk in Erinnerung zu rufen. Letzte Woche, am 26. April, war es 35 Jahre her, dass sich die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl ereignete. Am 26. April 1986 um 01:23 Uhr kam es auf Grund diverser Unachtsamkeiten zur folgenschweren Explosion des Reaktors #4 und zu einem Grossbrand, der zehn Tage lang nicht einzudämmen war. Gelöscht wurde mit Wasser, was die Auswirkungen noch vergrösserte. Der radioaktive Niederschlag kontaminierte mehr als 100’000 Quadratkilometer, vor allem die nur drei Kilometer vom Kernkraftwerk entfernte Stadt Pryjat, wo der Lebensunterhalt der rund 50’000 Einwohner weitgehendst von diesem abhing. Pryjat ist, wie andere Siedlungen in der Zone 1, zur Geisterstadt geworden, welche sich die Natur langsam zurückholt. Die radioaktive Strahlung jedoch wird noch für einen unbestimmten Zeitraum für Menschen und Tiere lebensgefährlich bleiben.
Gerd Ludwig ist derjenige Fotograf, der die Zone 1 am besten kennt. Schon neun Mal war er in Tschernobyl, und er gehört zu den ganz wenigen, die je Zugang zum Reaktor #4 erhielten: «Es war die grösste Herausforderung, die ich jemals erlebt habe» erzählt der National Graphic-Fotograf. «Die Umgebung war dunkel, laut und verursachte Angst und Beklemmung. Wir eilten durch spärlich beleuchtete Tunnels, übersäht mit Kabeln, zerfetzten Metallteilen und undefinierbarem Schutt. Während ich fotografierte, musste ich dem radioaktiven Staub und dem Funkenregen ausweichen, der beim Fräsen [der Abbrucharbeiten] entstand. Der Adrenalinschub war unglaublich, denn ich wusste, dass ich weniger als 15 Minuten Zeit hatte, um eindringliche Bilder in einem Bereich zu machen, den nur wenige jemals gesehen haben und zu dem ich wohl nie wieder Zugang haben werde.»
Noch eindrücklicher sind die Bilder von Gerd Ludwig, die er von den Überlebenden und ihren behinderten Nachkommen gemacht hat. Sie hausen in einfachsten Wohnungen, sind mit ihren körperlichen Gebrechen ihr Leben lang schwerstbehindert und können sich von ihren schäbigen Renten kaum ernähren. Die Bilder gehen unter die Haut, ja sie schockieren – doch sie zeigen eine menschengemachte Wirklichkeit, mit der wir uns konfrontieren müssen.
Die Bilder von Gerd Ludwig, die im Buch nahezu alle doppelseitig und in hervorragender Qualität präsentiert werden, zeigen die ganze Dramatik von Tschernobyl und das ganze Elend dieser Menschen, die noch immer in radioaktiv überdosierten Gegenden leben. Viele von ihnen sind sogar in die Zone 1 zurückgekehrt und leben mit ihrem Schicksal in einer unvorstellbaren Einsamkeit, die Gerd mit seiner Kamera eindrücklich dokumentiert hat. Das Buch schönt nicht, sondern es klagt an …
Zwar brauchen die eindrücklichen Bilder kaum einen begleitenden Text, doch die Schilderungen und ausführlichen Bildlegenden des Fotografen, die Zitate der Nobel-Preisträgerin für Literatur Swetlana Alexijewitsch und vor allem das Essay von Michail Gorbatschow sind absolut lesenswert. Der damalige und letzte Staatspräsident der Sowjetunion erinnert sich darin an die Tage nach der Katastrophe und schildert offen die Ratlosigkeit des Politbüros aufgrund von mangelnden Informationen und Überforderung des Systems. Tschernobyl habe ihm persönlich die Augen geöffnet, und war zusammen mit seiner Perestroika die wirkliche Ursache für den Zusammenbruch der Sowjetunion gewesen, schreibt Gorbatschow in seinem Vorwort zum Buch.
Weshalb braucht es ein solches Buch? Gerd Ludwig gibt uns die Antwort: «Mich treibt die Verpflichtung, im Namen von stummen Opfern zu handeln, um ihnen mit meinen Bildern eine Stimme zu geben. Bei meinem Aufenthalt in Tschernobyl habe ich viele verzweifelte Menschen getroffen, die bereit waren, ihr Leiden öffentlich zu machen – einzig beseelt von der Hoffnung, Tragödien wie jene in Tschernobyl zukünftig zu verhindern», sagt Gerd Ludwig über sein fotografisches Vermächtnis.
Urs Tillmanns
Buchbeschreibung des Verlages
National-Geographie-Fotograf Gerd Ludwig hat Tschernobyl in den letzten 20 Jahren neun Mal besucht. Und er hat sich so weit wie kaum ein anderer Fotograf ins Innere von Reaktor #4 vorgewagt, um die grösste nukleare Katastrophe der Geschichte zu dokumentieren. Mit packenden und berührenden Fotografien ist dies ein Buch des Erinnerns, denn Tschernobyl verschwindet. Im Wortsinn. Eine zweite Schutzhülle wird in Kürze das bekannte Bild des von der Explosion am 26. April1986 zerstörten Reaktors für immer unter einer Hightech-Kuppel verschwinden lassen. Es ist aber vor allem ein Buch des Erinnerns an jene Menschen, die diese Tragödie durchleiden mussten und müssen, sagt Gerd Ludwig: «Mich treibt die Verpflichtung, im Namen von stummen Opfern zu handeln, um ihnen mit meinen Bildern eine Stimme zu verleihen. Während meiner Aufenthalte in Tschernobyl habe ich viele verzweifelte Menschen getroffen, die bereit waren, ihr Leiden öffentlich zu machen – einzig beseelt von der Hoffnung, Tragödien wie jene in Tschernobyl zukünftig zu verhindern.»
Michail Gorbatschow reflektiert in einem begleitenden Essay die Bedeutung der Ereignisse von Tschernobyl im Lichte der politischen Entwicklungen, die zum friedlichen Ende des Kalten Krieges geführt haben.
Der Inhalt
Michail Gorbatschow: Wendepunkt für Tschernobyl
Gerd Ludwig: Der lange Schatten von Tschernobyl
Opfer
Prypjat
Reaktor #4
Gerd Ludwig: Im Innern von #4
Die Zone
Die Dokumente
Verstrahlte Geografie
Anmerkungen
Danke
Impressum
Tschernobyl-Fotos: © Gerd Ludwig/Edition Lammerhuber
Die Autoren
Gerd Ludwig (geboren 1947) ist einer der renommiertesten Fotografen unserer Zeit. Seit über 25 Jahren arbeitet er für das National Geographie Magazine. Im Zentrum seines Interesses steht die Dokumentation der sozioökonomischen Veränderungen in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion nach dem Ende des Kalten Krieges. Gerd Ludwig hat zahlreiche Preise erhalten, unter anderem den Lucie Award als «International Photographer of the Year» des Jahres 2006. https://www.gerdludwig.com/
Michail Sergejewitsch Gorbatschow, geboren 1931 in Priwolnoje (Kaukasus), studierte in Moskau Jura und arbeitete als Agraringenieur in seiner Heimatregion Stawropol. Nach einer steilen Parteikarriere war er von 1985 bis 1991 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei. 1986 begann er seine Kampagne für Perestrojka («Umbau») und Glasnost («Offenheit»). 1990/91 war er Präsident der Sowjetunion und erhielt 1990 den «Friedensnobelpreis». 1992 gründete er die Gorbatschow-Stiftung, 1993 die Umweltschutzorganisation «Internationales Grünes Kreuz». Seit dem Tod seiner Frau Raissa lebt Gorbatschow unweit von seiner Tochter Irina bei Moskau.
Bibliografie
Gerd Ludwig: «Der lange Schatten von Tschernobyl»
127 Fotos, 252 Seiten, Format 29 × 31 cm
gebunden, Hardcover mit Schuber,
September 2017
Fotos von National-Geographic-Fotograf Gerd Ludwig
Texte von Gerd Ludwig, Swetlana Alexijewitsch und Mikhail Gorbachev
Sprachen: Deutsch, Englisch, Französisch
Edition Lammerhuber, Wien
Preis: CHF 99.00 / EUR 75.00
ISBN 978-3-901753-66-4
Das Buch kann über den Buchhandel bestellt werden
Weitere Informationen edition.lammerhuber.at
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Hervorragende Aufnahmen, deren bedrückender Wirkung man sich nicht entziehen kann. In einer Zeit, in der sich Technik- und Naturkatastrophen wiederholen und häufen, hebt sich die Arbeit Ludwigs, lange vor dem aktuell vorherschenden digitalen Exhibitionismus mahnend hervor. Noch immer: mein Respekt.