Daguerreotypien – nach dem Erfinder Louis Daguerre benannt – waren die frühesten kommerziellen Fotografien die es gab – und auch die seltensten. Die auf einer versilberten Kupferplatte erzeugten Bilder waren teure Unikate in prachtvollen Etuis, zu denen man Sorge trug und an sicherem Ort aufhob. Sie sind rar geworden, weil das Verfahren nur von 1840 bis etwa 1870 praktiziert wurde und weil im Laufe der Zeit sehr viele dieser Kostbarkeiten verloren gingen oder durch unsachgemässe Restauration zerstört wurden. Am häufigsten wurde die Daguerreotypie für Porträts oder Familiengruppen eingesetzt, Bilder, die man gut verkaufen konnte. Seltener gab es Landschaftsaufnahmen oder Städtebilder – weil es dafür keinen Markt gab.
Man kann sich leicht vorstellen, dass mit dem Aufkommen der Fotografie schnell eine Nachfrage nach Aktdarstellungen entstand, wie diese in der Malerei von jeher üblich waren. Die Fotografen, die solche bewerkstelligten, und die Damen, die bereit waren Modell zu stehen, liessen sich im freizügigen Paris leicht finden – und von ihnen handelt dieses Buch. Und damit dieses entstehen konnten, brauchte es zwei Initianten: Einmal den Sammler Werner Bosshard und seine Frau Trudi, welche wohl eine der grössten Daguerreotypie-Sammlungen mindestens Europas besitzen, und dann den Historiker Denis Pellerin, der in den Archiven der Pariser Justiz und in anderen Städten nach den einschlägigen Fotografen und ihren Modellen recherchierte. Entstanden ist ein Buch, das nur in zweiter Linie erotischen Inhalt liefert, sondern viel mehr das damalige Bilderschaffen in diesen verboten Bereich dokumentiert und die Geschichten ihrer Urheber darstellt.
Denis Pellerin zeichnet in seinem Text die Hintergründe zu diesen Aktdarstellungen nach. Er zeigt namentlich auf, wer die Fotografen waren, die solche Bilder den reichen Bürgern anboten, wie und wo sie lebten, und wer die Modelle waren, meist siebzehn- bis zwanzigjährige Mädchen, die sich ohne Bildung und Beruf von dem leicht verdienten und grossen Geld locken liessen. Wie sie vor Gericht kamen, wie sie danach ihre Taten in den Pariser Kerkern verbüssten und wie schliesslich ihre Existenzen ruiniert waren, zeichnet der Autor mit Fakten auf, wie sie bisher weder recherchiert noch je gesehen wurden.
Das Buch hat noch ganz andere Qualitäten: Es ist ein eindrückliches Beispiel stereoskopischer Fotografie. Mit der mitgelieferten Stereobrille «Lite Owl 3D» der London Stereoscopic Company und den entsprechenden drucktechnischen Voraussetzungen werden die Bilder in einer verblüffenden Räumlichkeit dargestellt, die absolut dem Original und dem damaligen Trend der Fotografie entspricht.
Anders als in den bei uns üblichen Rezensionen verzichten wir dieses Mal auf das Abbilden von mehreren Doppelseiten und beschränken uns auf deren drei, die einen Eindruck der grafischen Gestaltung vermitteln sollen. Die Bilder im Buch zeigen die meist leicht verhüllte Modelle in einer Art und Weise, wie sie vor 150 Jahren dem Zeitgeist entsprach und heute kaum mehr als besonders obszön eingestuft werden dürften.
Für wen ist dieses Buch? In erster Linie für Leute, die sich für die früheste Fotografie interessieren und dort für ein Spezialgebiet, das in dieser Art und mit diesen Hintergrundinformationen noch nie dokumentiert wurde. Zweitens an Sammler von Daguerreotypien, denn Doppelbilder dieser Art findet man heute nur noch sehr selten und teuer auf speziellen Auktionen. Drittens an Fanatiker der Stereoskopie, die sich von der räumlichen Darstellung begeistert lassen, die zur damaligen Zeit in Paris gerade ganz gross in Mode war. Wer nur Erotik und Pornografe sucht, dürfte von diesem Buch eher enttäuscht werden.
Urs Tillmanns
Die Buchbeschreibung des Verlages
Aktfotografien im Allgemeinen und stereoskopische Daguerreotypien im Besonderen sind begehrte Sammlerobjekte. Die Wirkung dieser Bilder, die häufig wunderschön gefertigt und exquisit koloriert sind, wird durch den Tiefeneindruck im Stereoskop noch einmal gesteigert. Die Betrachter konnten sich jenen üppigen Damen nahe fühlen und die Illusion war fast perfekt – nur sie zu berühren, war nicht möglich. Viele erfreuen sich an diesen Bildern, doch wer von ihnen kennt schon die wahren Geschichten hinter diesen künstlerischen – und gelegentlich auch pornografischen – Darstellungen?
Derartige Daguerreotypien wurden fast ausschliessiich in Frankreich in den 1850er und 1860er Jahren gefertigt. Käufer bezahlten ein kleines Vermögen für sie, wohingegen die Mehrzahl der Fotografen, die diese aufnahmen, und die Modelle, die dafür posierten, mit ihrer Freiheit und meist auch mit ihrem Ruf bezahlen mussten.
Der Fotohistoriker Denis Pellerin enthüllt einige der traurigen Geschichten, die sich hinter der glanzvollen Oberflache dieser bemerkenswerten Daguerreotypien in der Sammlung Bosshard verbergen. Es geht um mehr als bloss nackte Haut, denn bei den Personen, die sich vor der Kamera auszogen, handelte es sich um junge Frauen, die von einem besseren Leben träumten. Oftmals war ihnen nicht bewusst, dass sie einen hohen Preis für das leicht verdiente Geld würden zahlen müssen, das sich mit dem Zurschaustellen ihrer unverhüllten Reize machen liess. Während Sie nun, liebe Leserinnen und Leser, in den Genuss dieser stereoskopischen Bilder kommen, vergessen Sie bitte nicht, dass die reizvollen Modelle wegen Unsittlichkeit angeklagt, verurteilt und inhaftiert wurden.
Der lnhalt
Vorwort
Joséphine und ihre «sündigen Schwestern» – eine Einleitung
ldentifizierte Modelle in der Sammlung Bosshard
Augustine Guy, Delphine Rosa Herbet, Fanny Decors, auch bekannt als Palmyre, Victorine Marie Barré, Joséphine Dedarche, Amélie Adélaïde Hurel, Louise Yictorine Françoise Courtault, Pauline Eléonore Kraft
Galerie der nicht-identifizierten Modelle in der Sammlung Bosshard
«Nazarieffs Augustine», «Pauline», «Antonia Gotte», Modell in schwarzem Kleid mit Spitzenkragen, Modell mit Rock und tief ausgeschnittenem Mieder in ein Buch vertieft, Die drei Grazien, Das selbstbewusste Modell, Sich entspannende Schönheit, Modell mit Hund, Modell mit Brauthaarkranz, Schleier und Halskette, Modell in einem Lehnstuhl, Das lesende Mädchen, Modell mit Halskette, Ein Hauch vom Orient, Modelle bei ihrer Körperpflege, Modell mit durchsichtigem Schleier, Enthüllende Ansicht, Le Coucher (schlafen gehen), Durch das Fenster, Die junge Wäscherin, Modell auf einem Sofa, daneben eine Gitarre, Modell vor einer Naturkulisse, Die Zeitung und das Spinnrad, Das Geheimnis, Das perfekte Modell, Die Malerin, Studie einer Schönheit, Das Unterkleid, Der Blumenkorb, Verhüllt oder unverhüllt?, Der Warteraum, Die Hängematte, Ekstase, Heimliche Liebe – Venus und ihre Taube, Akt in einem «Union Case», Akt in einem «Union Case» aus Schellack
Die grossen Geheimnisse
«Polka», Cunnilingus, Künstlerstudie, Quartett, Kopfüber
Die Fotografen
Félix Moulin, François Benjamin Lamiche, Eugene Thiébault, Auguste Joseph Belloc, Alfred François Cordier, Alexis Gouin, Félix Marie Chevalier, Bruno Braquehais
Danksagungen
Anmerkungen
Register
Der Autor
Denis Pellerin hat einen Magisterabschluss in Kunstgeschichte von der Sorbonne. Als autodidaktischer Fotohistoriker ist die Stereofotografie des 19. Jahrhunderts seine grosse Leidenschaft. Seit über 40 Jahren befasst sich Denis mit der Geschichte der Stereofotografie. Er ist Verfasser bzw. Co-Autor zahlreicher Beiträge und Bücher zu diesem Thema, sowohl auf Französisch als auch auf Englisch. lm dreissigsten Jahr als Gymnasiallehrer hatte Denis das Glück Dr. Brian May kennenzulernen, mit ihm zusammenzuarbeiten, um dann als Kurator für dessen umfangreiche Fotosammlung eingestellt zu werden (die Sammlung umfasst über 150’000 Stereofotografien). Denis sieht es als sein vordringlichstes Ziel, die Sammlung erlebbar zu machen.
Bibliografie
«Geschichte der Aktfotografie in Stereo-Daguerreotypien
aus der Collection W.+T. Bosshard»
248 Seiten, gebunden, Format 235 x 292 mm, Hardcover, Schutzumschlag
mit Stereobrille und Mikrofasertuch
Sprache: Deutsch (auch englische und französische Ausgabe)
Text von Denis Pellerin und Werner Bosshard
BEA + Poly-Verlags AG, Brugg
Preis: CHF 68.00 / EUR 68.00
ISBN 978-3905177541
Das Buch kann im Buchhandel bezogen, beim Autor direkt bestellt oder im Ausland hier geordert werden.
Kleine Randnote: Dr. Brian May, dessen Kurator für seine Stereophotographie-Sammlung Denis Pellerin ist, ist wohl den meisten besser als Gitarrist der Band Queen bekannt – und apropos Akt-Bilder: Mit dem Kauf der Queen LP Jazz sind 1978 einige meiner Freunde in den Besitz eines der Schallplatte beigelegten Posters gekommen, von dessen Existenz ihre Mütter besser nichts wusste 😉