Die «Biennale dell’immagine» in Chiasso ist in der Szene der Fotofestivals längst zu einem festen Begriff geworden. Bereits zum elften Mal findet sie dieses Jahr in der südlichsten Grenzstadt statt, dieses Jahr unter dem Motto «Crash».
«Crash» ist Kollision, Unfall, Sturz, aber auch Nervenkitzel, Emotion und Angst – Schlagworte, die man in vielen der ausgestellten Bildern sieht, allen voran natürlich in den Unfallaufnahmen von Arnold Odermatt, die in deutschsprachigen Regionen weitgehend bekannt sind, in der Südschweiz und dem nahe Italien durchaus als Publikumsmagnete wirken.
«Crash» passt auch als Motto zu den Doppelbildern von Boris Mikhailov, der in seiner «Versuchung des Todes» (Temptation of Death) das verlassene Krematorium von Kiew als Leitmotiv nahm und harmonisierende oder kontrastierende Bilder nebeneinanderstellte.
«Crash» sind auch die Bilder der ECAL Lausanne, welche als Utopisten die bisherige Kunstform der Fotografie hinterfragen und mit eigenen Interpretationen eine neue Zukunft der Fotografie suchen.
«Crash» ist aber auch der Aufbruch zu Neuen, zu bisher Ungesehenen, zu Kreationen, die der persönlichen Fantasie entspringen und die Vergangenheit und ihre Bildersprache in Frage stellen.
Chiasso im Fotorausch
Die diesjährige Biennale dell’Immagine ist an 12 verschiedenen Orten von Chiasso zu finden, in öffentlichen Gebäuden ebenso wie viele Galerien der Stadt. Sie konzentrieren sich während den zwei Monaten vom 5. Oktober bis 8. Dezember 2019 auf die Fotografie und bieten jungen, aber auch arrivierten Künstlern die Gelegenheit, ihre Werke an der Biennale in Chiasso auszustellen.
Wie schon frühere Jahre ist die diesjährige Biennale auch über die Stadtgrenzen hinaus präsent, etwa in Mendrisio, in Lugano, in Ligornetto, in Porza, in Morbio Inferiore oder über die Landesgrenzen hinaus in Pellio Intelvi oder in Como. Das Interesse an guter zeitgenössischer Fotografie setzt sich über die Landesgrenzen hinweg, und so ist es naheliegend, dass die Biennale mit vielen Besuchern vor allem aus Italien, und hoffentlich auch aus der nördlichen Schweiz, rechnen kann.
Einige Highlights der Biennale Chiasso
Boris Mikhailov: The Temptation of Death
Das jüngste und umfassendste Werk des ukrainischen Fotografen Boris Mikhailov (*1938) ist mit 24 von insgesamt 150 Doppelbildern im Spazio Officina die grösste der mehr als 25 Ausstellungen der Biennale. Es sind Bilder aus der Vergangenheit, viele fotografiert im Krematorium von Kiew aus der Sowjetzeit, die sich mit modernen Bilder paaren und so die Mehrdeutigkeit, den Drang zu Veränderungen, zu Neuanfang haben und dabei vor allem die Grundsätze des institutionellen politischen Systems hinterfragen.
Arnold Odermatt: die 32 Bilder der Biennale in Venedig
Aus dem reichhaltigen und umfassend dokumentierten Werk des Nidwaldner Polizeifotografen Arnold Odermatt sind an der Biennale in Chiasso jene 32 Bilder zu sehen, die 2001 an der Biennale in Venedig die Kunstwelt entdeckt hatten und alsbald in grosse Kunstmuseen und Galerien Einzug hielten. Einst als reine Dokumentationen für gerichtlichen Gebrauch entstanden, begeistern die Bilder durch ihre Einzigartigkeit und Unfällen aus einer längst vergessenen Zeitepoche und durch eine technische Perfektion, die ein grosses handwerkliches und formales Können des Fotografen beweisen.
ECAL: «Guardare l’utopia»
Die Piazza dei Colori ist den Arbeiten der Ecole Cantonale d’Art Lausanne gewidmet, welche die Kollision der bisherigen Kunstfotografie mit den modernen schnellen und omnipräsenten Kommunikationsmethoden und die damit verbundene radikale Veränderung zum Ausdruck bringen wollen. Sie suchen in ihren grossformatigen Bildern eigenen Interpretationen ihrer Zukunft der Fotografie.
Marcello Dudovich – Fotografie zwischen Kunst und Passion
Ein weiteres Highlight ist die Retrospektive zu Marcello Dudovich (1878-1962), der mit seinen Plakaten die grafische Gestaltung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weit über die Grenzen Italien hinaus geprägt hat. Die Sammlung zeigt heute seltene Plakate ebenso wie Illustrationen für Zeitschriftentitel oder einfacher Gebrauchsgrafik. Was die Ausstellung besonders interessant und thematisch passend macht, sind die vielen Originalfotografien, welche Dudovich offensichtlich als Vorlagen dienten.
Karin Borghouts – The House
Der Brand ihres Elternhauses versetzte der Fotografin Karin Borghouts einen nachhaltigen Schock. Ruiniert sind ihre Kindheitserinnerungen, die materiellen Werte ihrer Jugend sind in verkohlte, kaum erkennbare Objekte verwandelt. Dennoch ist Borghouts fasziniert von der Schönheit der zurückgelassenen Zerstörung und beginnt die verbleibenden Objekte und Innenräume mit höchster Perfektion zu dokumentieren. Sie schafft damit nach diesem «Crash» nicht nur eine aussergewöhnliche Bildserie, sondern sie verarbeitet so auch den Verlust aus ihrer Kindheit.
Willi Moegle – Do not Drop
Willi Moegle (1897-1989) hat mit seinem Stil die Sachfotografie der Nachkriegszeit massgebend geprägt. Während er vor dem Krieg weitgehend dokumentarisch fotografierte, machte sich Moegle 1946 selbständig und pflegte einen neuen Stil klarer Linien, optimaler Objektdarstellung und effektvoller Lichtsetzung. Die von der Fondazione Rolla gezeigten Porzellanaufnahmen gehören zu den bekanntesten freien Werke Moegles, obwohl er vorwiegend als Werbefotograf für die aufstrebenden Industriefirmen Deutschlands arbeitete.
Die Fotografie nach dem «Crash»
Chiasso, und vor allem ein Gruppe unermüdlicher Organisatoren, Projektleiter und unerwähnter Helferinnen und Helfer, haben mit der diesjährigen Biennale dell’Immagine einmal mehr ein äusserst vielseitiges und spanendes Fotofestival realisiert, das nicht nur die neuen Impulse der zeitgenössischen Fotografie aufzeigt, sondern ebenso Raum lässt für klassische Werte wie die eindrucksvollen Gegenüberstellungen von Boris Mikhailov, die epochale Plakatgestaltungen eines Marcello Dudovich oder die persönlichen Erinnerungswerte von Karin Borghouts. Es ist ein breites Spektrum verschiedener fotografischen Stilrichtungen, die zum Verweilen rufen und zu neuen eigenen kreativen Leistungen anspornen.
Text und Bilder: Urs Tillmanns
Die meisten Ausstellungen sind noch bis 8. Dezember 2019 zu sehen. Details dazu entnehmen Sie der untenstehenden Auflistung, dem Detailprogramm (pdf) oder der Webseite www.biennaleimmagine.ch
Biennale dell’immagine CRASH Chiasso | ||
Datum | Ort (siehe Plan) | Ausstellungen |
bis 08.12. | 1 | Crash Boris Mikhailov Temptation of Death |
bis 08.12. | 2 | Crash Arnold Odermatt The Biennial Selection. 32 Photographs for Venice 2001 |
bis 08.12. | 3 | Crash / ECAL, Losanna Guardare l’utopia Master |
bis 16.02. 2020 |
4 | Marcello Dudovich (1878 – 1962) Fotografia fra arte e passione |
bis 08.12. | 5 | Aline d’Auria We are all going home |
bis 08.12. | 6 | Karin Borghouts The House |
bis 08.12. | 7 | Miky Maoys 1 Esther Kempf, Laurent Kropf, Alfio Mazzei, Valentina Pini |
bis 08.12. | 8 | Miky Maoys 2 Esther Kempf, Laurent Kropf, Alfio Mazzei, Valentina Pini |
bis 08.12. | 9 | Menno Aden Guarda che ti riguarda/ Room portraits |
bis 08.12. | 9 | Pino Musi Border Soundscapes |
bis 08.12. | 9 | Crash / Stefano Comensoli, Nicolò Colciago Fragments Toccare un dito con il cielo |
bis 08.12. | 9 | Crash / Francesco Maria Gamba Contour |
bis 08.12. | 9 | Luigi Boccadamo Red bug I Ching project #01China |
bis 08.12. | 10 | Willi Moegle «DO NOT DROP» |
bis 08.12. | 11 | Santiago Carrera Natura Sospesa |
bis 08.12. | 12 | Crash / Massimo Pacciorini tra realtà e finzione |
bis 08.12. | Galleria Doppia V Lugano | Santiago Carrera Natura sospesa |
bis 08.12. | Casa del vino Ticino Morbio Inferiore |
Jean-Claude Fontana Je t’appelais Seppi Ich nannte dich Seppi, Ti chiamavo Seppi |
bis 08.04. 2020 |
Biblioteca dell’Accademia di architettura Mendrisio |
Fotografare l’ira. Le distruzioni a Parigi durante la Comune del 1871 |
19.10 – 21.12. | Galleria Daniele Agostini Lugano |
Salvatore Vitale Control compound: changing of constants |
19.10. – 31.07.2020 | De Pietri Artphilein Foundation Lugano |
Pino Musi La fotografia, un cantiere aperto |
19.10.– 12.01.2020 | Spazio 1929 Lugano |
Sabelo Mlangeni Country Girls |
20.10 – 17.11. | Casa Pessina Ligornetto |
Gian Paolo Minelli Ex Barrio 26 |
27.10. – 12.01.2020 | Fondazione d’Arte Museo Villa Pia Porza |
Marion Tampon-Lajarriette |
bis 08.12. | Casa Corti Pellio Intelvi Italia |
Piero Martinello Radicalia |
bis 08.12. | Galleria Ramo Como, Italia |
Igor Ponti «South of no North» |
Tagesveranstaltungen, siehe Detailprogramm (pdf) |